Ein ehemaliges Mitglied einer Todesschwadron aus Belarus steht bald in St. Gallen vor Gericht. Der Mann soll an der Ermordung von drei Gegnern des belarusischen Präsidenten Lukaschenko beteiligt gewesen sein. Der Prozess ist ein Meilenstein in der Verfolgung von Verbrechen autoritärer Regimes.
Es ist Sonntagabend, der 7. Mai 1999. Acht Mitglieder einer belarussischen Spezialeinheit machen sich auf den Weg nach Minsk. Sie parkieren ihre zwei Wagen in der Nähe der Plattenbausiedlung an der Zukovskogo-Strasse 9–1. Dort lebt Juri Sacharenko, ein charismatischer Oppositionspolitiker.
Als Sacharenko an diesem Abend sein Auto parkiert und zu Fuss vom Parkplatz zu seiner Wohnung geht, wartet die Spezialeinheit bereits auf ihn. Doch er ahnt nichts. Auf dem Fussweg zu seiner Wohnung ruft Sacharenko noch seine Frau an und sagt ihr, dass er gleich zu Hause ist. Doch sie wartet vergebens – ihr Mann kommt nie zu Hause an.
Das Regime auf der Anklagebank
Ein Mitglied der Spezialeinheit, das an diesem Abend auf Sacharenko gewartet hat, ist der fast 2 Meter grosse Hüne Juri Garawski. Am 19. September 2023 wird er sich am Kantonsgericht in St. Gallen für seine mögliche Beteiligung an der Entführung und Ermordung von Juri Sacharenko und zwei weiteren Personen, Viktor Gonchar und Anatoli Krasowski, verantworten müssen.
Staatsanwalt Peter Hangartner hat Garawski konkret wegen «Verschwindenlassens» in drei Fällen nach Artikel 185 des Schweizer Strafgesetzbuchs angeklagt. Er fordert eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, davon zwei Jahre auf Bewährung. Weil die mutmasslichen Verbrechen in Belarus verübt wurden und sowohl Opfer und Täter Belarussen sind, kann die St. Galler Staatsanwaltschaft Garawski nicht wegen Mittäterschaft oder Beihilfe zum Mord anklagen. «Verschwindenlassen» dagegen unterliegt dem sogenannten Weltrechtsprinzip. Es reduziert die Hürden für Anklagen im Ausland und wird vor allem bei Verstössen gegen das Völkerrecht angewendet.
Der Artikel 185 «Verschwindenlassen» ist 2017 im Schweizer Strafgesetzbuch eingeführt worden, um staatlich organisierte oder gebilligte Entführungen und Morde bekämpfen zu können, die im Land, wo sich die Tat ereignet hat, nicht verfolgt werden. Damit steht in St. Gallen indirekt auch Präsident Lukaschenko vor Gericht, der in Belarus seit 1994 an der Macht ist und das Land in eine Diktatur verwandelt hat. Laut dem Politikwissenschaftler Alexander Feduta sind in Belarus bis heute über 30 Personen von staatlichen Todesschwadronen ermordet worden.
Ein historischer Prozess
Yuri Sacharenko, Viktor Gonchar und Anatoli Krasowski, für deren «Verschwinden» sich Garawski jetzt vor Gericht verantworten muss, sind die prominentesten Opfer des Lukaschenko-Regimes. Sacharenko arbeitete Mitte der 1990er Jahre kurz mit Lukaschenko zusammen und war für etwas über ein Jahr Innenminister. Doch er widersetzte sich dem zunehmend autoritären Stil des Präsidenten, wurde von seinem Ministerposten enthoben und entwickelte sich danach zu einem führenden Oppositionspolitiker.
Ähnlich ist es Viktor Gonchar ergangen, der sich als Chef der Wahlkommission gegen die von Lukaschenko angestrebte Verfassungsänderung im Jahr 1996 stellte. Er wurde entlassen, schloss sich der Opposition an und untergrub im Mai 1999 Lukaschenkos Autorität mit der Durchführung einer inoffiziellen Präsidentschaftswahl.
Gonchar wurde am 16. September 1999, gut vier Monate nach dem Verschwinden von Sacharenko, zusammen mit seinem Geschäftspartner Anatoly Krasowski entführt und ermordet.
Für das Hilfswerk Libereco, das sich seit 2009 für die Menschenrechte in Belarus einsetzt, ist der Prozess in St. Gallen ein Meilenstein. «Es ist das erste Mal überhaupt, dass die in Belarus begangenen politischen Morde vor einem Gericht verhandelt werden», sagt Lars Bünger, der Präsident von Libereco Schweiz. Zudem werde in der Schweiz zum ersten Mal jemandem wegen «Verschwindenlassens» der Prozess gemacht.
Im Kofferraum von Minsk bis nach Basel
Der Angeklagte Garawski lebt seit 2018 als Flüchtling in der Schweiz. Am 19. Oktober 2018 habe ihn ein Freund im Kofferraum eines schwarzen Wagens von Minsk bis nach Basel gefahren, behauptet er. Garawski stellte einen Asylantrag und wurde danach dem Kanton St. Gallen zugeteilt.
Den Migrationsbeamten erzählte er seine abenteuerliche Geschichte: dass er früher Mitglied einer Spezialeinheit des Innenministeriums mit dem Namen SOBR gewesen sei, dass er sich an der Ermordung von Gegnern des belarussischen Machthabers Lukaschenko beteiligt habe und wie er angeblich selbst zur Zielscheibe des belarussischen Regimes geworden sei. Das Schweizer Migrationsamt glaubte Garawski aber nicht und lehnte sein Asylgesuch ab.
Möglicherweise um sein Bleiberecht zu erzwingen, erzählte er seine Geschichte nochmals detailliert in einem Dokumentarfilm des Fernsehsenders Deutsche Welle, der im Dezember 2019 ausgestrahlt wurde. Garawski beschrieb seine Taten danach auch persönlich der Tochter von Juri Sacharenko. Zusammen mit der Neuen Zürcher Zeitung organisierte die Deutsche Welle im Februar 2020 ein Treffen der beiden in Zürich. Alena Sacharenka lebt in Deutschland und wollte vom vermeintlichen Mörder ihres Vaters erfahren, was wirklich am Abend des 7. Mai 1999 geschehen war.
Glaubhafte Aussagen
Sacharenko ist schon fast zu Hause, als sich ihm zwei Männer in den Weg stellen und ihre Dienstausweise zeigen. «Mitkommen, Polizei», sagt einer. Von hinten nähern sich zwei weitere Männer, einer davon ist Garawski. Sie fordern Sacharenko auf, seine Hände hinter den Rücken zu legen und fesseln ihn mit Handschellen. Sie bringen ihn zu einem dunklen Opel Omega, setzen ihn auf den Rücksitz, ziehen ihm einen Sack über das Gesicht und drücken seinen Kopf zwischen die Vordersitze.
Der Wagen mit Sacharenko auf dem Rücksitz fährt los, gefolgt von einem roten BMW mit vier weiteren SOBR-Mitgliedern. Das Ziel ist ein Truppen-Ausbildungszentrum in Voloshchina, 20 Kilometer nordwestlich von Minsk. Während der gut 30-minütigen Fahrt läuft das Radio und es wird nur einmal kurz gesprochen – Juri Sacharenko bittet die Männer, es schmerzlos zu tun. Er ahnt was kommen wird.
Die Schilderungen der Entführungen und Hinrichtungen in diesem Artikel stammen allein von Garawski. Im Dokumentarfilm der Deutschen Welle, zwei Berichten der Neuen Zürcher Zeitung und der Anklagschrift der St. Galler Staatsanwaltschaft beschreibt er die Einzelheiten seiner Taten. Zwar lässt ein Untersuchungsbericht des Europarats keine Zweifel daran, dass Sacharenko, Gonchar und Krasowski auf Befehl von «hochrangigen Beamten» oder Lukaschenko umgebracht wurden. Aber ob sich alles genau so abgespielt hat, wie Garawski erzählt, ist schwierig zu überprüfen.
Für die Staatsanwaltschaft St. Gallen und das Hilfswerk Libereco sind die Aussagen von Garawski aber glaubhaft. Er verfügt offensichtlich über Insiderwissen, beschreibt die Abläufe der Hinrichtungen detailliert und konsistent, kennt die Tatorte und nennt die Namen der an den Morden beteiligten Personen. Auch Alena Sacharenko glaubt Garawski, was er ihr über die Ermordung ihres Vaters erzählt hat.
Die Exekutionen
Nachdem die beiden Wagen beim Schiessstand des Ausbildungszentrums in Voloshchina angekommen sind, zerren die Männer Sacharenko aus dem Auto und werfen ihn mit dem Bauch nach unten auf den Boden. Der Chef der Gruppe, Dmitri Pawlitschenko, führt noch ein Telefongespräch, während die anderen Männer warten und Zigaretten rauchen. Nach dem Telefonat sagt Pawlitschenko zu Garawski, dass er die Pistole aus dem BMW holen soll.
Es ist die Waffe, die in Belarus zur Ausübung der gesetzlich verhängten Todesstrafen verwendet wird: eine russische Makarov 6P9 mit Schalldämpfer. Die Pistole ist erwiesenermassen wenige Tage zuvor auf Weisung des Innenministers aus dem SIZO-1 Gefängnis in Minsk – dem einzigen Ort in Belarus wo Todestrafen vollzogen werden – ausgebucht und dem SOBR-Chef Pawlitschenko übergeben worden.
Garawski geht zum Wagen und holt die Pistole für seinen Chef. Dann schiesst Pawlitschenko aus der Nähe zwei Mal von hinten in die Herzgegend von Sacharenko. Bei dem Treffen mit Alena Sacharenka sagt ihr Garawski: «Die Kugeln stecken bestimmt noch im Boden.»
Vier Monate später, am 16. September 1999, werden Viktor Gonchar und Anatoli Kraswoski nach einem Saunabesuch mitten in Minsk von Garawski und seinen SOBR-Kollegen entführt. Sie werden gewaltsam überwältigt, geknebelt und zu einem Militärstützpunkt rund 100 Kilometer nördlich von Minsk gefahren. Dort werden die beiden ebenfalls von Pawlitschenko erschossen, mit der Makarov 6P9, die kurz zuvor erneut aus dem SIZO-1 Gefängnis in Minsk ausgeliehen wurde. Die leblosen Körper werden entkleidet und in eine Grube geworfen.
Die Behörden vertuschen
Nach den Morden an den drei Männern beginnt für die Familien eine Zeit der verzweifelten Suche. Doch die Behörden lassen die Angehörigen im Dunkeln tappen. Im Untersuchungsbericht des Europarats steht, «dass auf höchster Ebene des Staates Schritte unternommen wurden, um die wahren Hintergründe des Verschwindens [der drei Personen] aktiv zu vertuschen».
Der Chef der Kriminalpolizei in Belarus schreibt zwar in einer Meldung vom 21. November 2000 an das Innenministerium, dass er den engen Vertrauten von Lukaschenko und Chef des belarussischen Sicherheitsrats, Viktor Sheiman, verdächtigt, die Morde angeordnet zu haben. Zudem lässt er Pawlitschenko, den Chef der SBOR-Spezialeinheit, der mutmasslich die Schüsse auf die drei Oppositionellen abfeuerte, verhaften.
Doch nach einem Tag hinter Gittern wird Pawlitschenko auf Befehl des belarussischen Geheimdienstes KGB aus dem Gefängnis entlassen. Kurz darauf wird Sheiman, der mutmassliche Auftraggeber der Morde, von Lukaschenko zum Generalstaatsanwalt ernannt und damit zum Leiter der Mord-Untersuchungen. Der Chef der Kriminalpolizei, der die Verdächtigen benannt hat, wird bald darauf krank und in die Frühpension geschickt.
Die Familien der Ermordeten erfahren erst von Garawski, was genau mit ihren verschwundenen Angehörigen passiert sein könnte. Vor dem Gericht in St. Gallen werden seine Aussagen nun überprüft.
Gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung sagte Alena Sacharenko: «24 Jahre wusste ich nicht, was nach der Verschleppung mit meinem Vater geschehen ist. Meine Hoffnung ist, dass in diesem Strafprozess die Wahrheit ans Licht kommt.»