Sie sind überall und allgegenwärtig: die Freerider. Sie drehen ihre Saltos über Vier-Zylinder-Turbo-Benzinern mit Allrad-Antrieb, sie fliegen durch die Luft in Manager-Magazinen und sie machen ihre Schrauben für i-Phone-Apps oder strukturierte Produkte und Anlagefonds.
„Wagen Sie den Sprung!“ heisst die Bildunterschrift in einer Investment Beilage: „Mit den richtigen Anlagen stehen die Chancen auf Höhenflüge gut, und dies bei vertretbarem Risiko.“
Immer hoch am Himmel, immer jung, dynamisch und tollkühn. Dick vermummt, mit Helm, Skibrille, Rückenpanzer und einem Rucksack voller Lawinen-Ausrüstung wirken sie wie ausserirdische Helden, die aus den Höhen geflogen kommen, um weich zu landen im meterhohen Tiefschnee einer weissen Welt. Denn Schneesport ist die Idee von einer Welt, die frei ist von Staub und Flecken. Die ideale Werbekulisse.
Die Freerider also. Wer wäre besser geeignet, die Eigenschaften zu verkörpern, die in der Arbeitswelt immer noch Spielregel sind: Jugendlichkeit und Leistungsbereitschaft, Power und Wagemut. Vergessen sind die Jahrzehnte feministischer Diskussionen, ergebnislos die zähe Bildhauerarbeit an einem Softy-Modell für einen neuen Mann. Gefragt ist Performance im Job, in der Sexualität und im Sport. Und die Performance in dieser ihrer Dreifaltigkeit ist immer noch zentraler Pfeiler der männlichen Identität. Zumindest in der Welt, in der schnelle Autos und schnelle Rendite Priorität sind.
Die Freerider können nichts dafür
Um es vorweg zu nehmen: die Freerider sind nicht schuld an dieser Vermarktung. Wenn man junge Freerider fragt, was sie an ihrem Sport gut finden, dann werden wohl die wenigsten antworten, dass sie sich als Werbeträger all dieser Produkte sehen, die mit der betrügerischen Verpackung von Freiheit und Abenteuer verkauft werden.
„Wenn es im Winter zum ersten Mal schneit, dann kann ich mich daheim fast nicht mehr zurückhalten. Dann freue ich mich wie ein kleines Kind, zum ersten Mal wieder das Brett unter den Füssen zu haben und mit meinen Kollegen durch den Tiefschnee zu fahren. Dabei tauche ich in eine andere Welt ein, wo die Zeit still steht.“
Das sagt einer der jungen Rider im Dokumentarfilm „Steps“. Einer dieser ultimativen Tiefschneefilme, in der die Snöber und Skifahrer eigentlich nicht mehr fahren, sondern – der Schwerkraft entronnen - zu Flugreisen auf weissen Powder Wolken abheben.
Der Film ist ohne Einsatz von Helikoptern gedreht, die jungen Filmer haben das gesamte Material mit öffentlichen Verkehrsmitteln transportiert und zu Fuss hochgeschleppt an die Drehorte. Sie haben für den Film 1,8 Tonnen CO2-Ausstoss verursacht, für eine vergleichbare Dokumentarfilm-Produktion rechnet man normalerweise 80 Tonnen CO2.
Im Film sieht man den Profi-Snowboarder Reto Kestenholz, wie er daheim in Boltigen im Simmental an seiner Nähmaschine sitzt und einen Handschuh repariert.
Kurzer Traum der Abfahrt
„Obwohl ich von meinen Sponsoren die Ausrüstung bekomme, flicke ich gern mal meine Sachen selbst oder bringe ein Brett mal wieder in die Ordnung, statt einfach etwas in die Ecke zu stellen und etwas Neues zu nehmen.“
Kestenholz gehört zu der Sorte von Freeridern, die die Überflussgesellschaft und Wegwerf-Mentalität in Frage stellen und auf ein nachhaltiges Naturerlebnis bedacht sind. Er ist einer von denen, die mit Bahn und Postauto anreisen und sich Stunden und Aberstunden Schritt für Schritt durch den Tiefschnee nach oben kämpfen. Nur um dann den kurzen Traum der Abfahrt zu erleben: das schwerelose Ziehen einer Linie in unberührten Pulverschnee-Hängen.
„Wenn man sich professionell bewegt im Snowboard Zirkus, bedeutet das, man fliegt um die Welt, man hat ein Auto, man braucht Helikopter zum Filmen. Für mich ist das zum Widerspruch geworden, dieser ganze CO2-Ausstoss, den man da produziert, und ich will das vermeiden.“
Freeride: der am schnellsten wachsende Markt
Selbverständlich denken nicht alle Freerider so. Auch die Heliski-Anbieter, Motorschlitten-Fahrer und andere motorisierte Wintersportler haben ihre Fangemeinde, aber das sind oft ältere gut betuchte Damen und Herren. Experten der Outdoor-Branche schätzen die Zahl der Tourengeher und Tiefschnee-Fahrer in der Schweiz auf eine satte halbe Million. Wobei der Übergang vom gelegentlichen Freerider ausserhalb der Piste zum harten Kern der extremen Couloir-Profis fliessend ist. Und natürlich sind da noch die altväterlichen SAC-Bergbüffel und Tourengeher, der SAC hat immerhin 130tausend Mitglieder. Und der Anteil der Jüngeren wächst auch im SAC kontinuierlich.
Für die Outdoor-Branche ist der Freeride-Trend eine Goldgrube. Die Umsätze steigen von Jahr zu Jahr. Die neuen breiten Freeride-Skis werden von jung und alt gekauft. Von der Lawinen-Schutzausrüstung über die Helm-Kamera bis zur speziellen Unterwäsche ist alles in den Regalen. Es ist der wohl am stärksten expandierende Markt im Wintersport-Geschäft. Schon in den 90er Jahren, als der Skiverkauf stagnierte oder rückläufig war, sagte mir ein Vertreter der Branche, ein stetiges Wachstum sei nur im Sektor Tourengehen zu bemerken. Die Leute sind heute offenbar mehr denn jeh gesättigt und gelangweilt von den immer gleichen Pisten-Autobahnen und suchen den Pulverschnee abseits der Piste.
Lifestyle
Hinzu kommen die Faktoren Jugendlichkeit, Abenteuer und Freiheit, also das von der Werbung tausendfach propagierte Leitbild. Freeriden ist nicht nur eine Art, Ski oder Snowboard zu fahren. Es ist Lifestyle, es symbolisiert die Kraft und die Jugendlichkeit derer, die das Leben mit Leichtigkeit und Coolness zu meistern wissen. Und mit diesem Zielbild im Visier legen auch ältere Herrschaften schnell einmal mehrere tausend Franken hin für den All-Mountain-Rocker-Freeride-Ski mit der entsprechenden Bindung und dem zugehörigen Outfit.