Die amerikanische Öffentlichkeit ist aufgewühlt vom Massaker, das ein schiesswütiger Waffenfanatiker im Casino-Paradies Las Vegas angerichtet hat. Über die Tragödie wird auf allen Kanälen berichtet und diskutiert. Nur die mächtige Waffenlobby hüllt sich vorerst weitgehend in Schweigen – das gehört zur erprobten Taktik unmittelbar nach einem derartigen Massenmord. („Go dark“, soll die interne Verhaltensregel in solchen Fällen heissen.)
Doch es ist absehbar, dass die Propagandamaschine der National Rifle Association (NRA) wieder auf volle Touren geschaltet wird, wenn neue Anläufe zur Einschränkung des privaten Waffenbesitzes in Gang kommen. Und mit Sicherheit werden dann auch hehre Begriffe wie Freiheit für freie Bürger zur Selbstverteidigung vor bösen Mächten und der Pflicht zur Respektierung der freiheitlichen Verfassung ins Feld geführt und mit patriotischem Pathos aufgeladen werden. Auch das schon seit Jahren von der staatskritisch-libertären Tea Party und ihrem weitverzweigten rechtskonservativen Umfeld in allen möglichen Zusammenhängen propagierte Schlagwort „Freedom works“ wird bei dieser Anti-Regulierungskampagne zum Einsatz kommen.
Natürlich ist Freiheit ein fundamentaler Begriff, mit dem sich nicht umsonst Generationen von politischen Denkern beschäftigt haben und der nicht zufällig zum ersten Leitbegriff der Französischen Revolution geworden ist. Doch er bleibt hohl oder bietet Gelegenheit zu Missbrauch und Verlogenheit, solange im politischen Kontext nicht präziser definiert wird, welche Freiheit denn gemeint ist und welches ihre Grenzen sind.
Meinen die Freedom works-Apologeten auch die Freiheit des Massenmörders von Las Vegas, ohne Schwierigkeiten 42 Schusswaffen zu kaufen, einige davon mit legal erworbenen Zusatzteilen in Schnellfeuerautomaten umzubauen und 23 dieser Mordmaschinen ohne Kontrolle in sein Hotelzimmer zu bringen? Welcher Unterschied besteht zwischen der undifferenzierten Freiheits-Rhetorik und dem Gesetz des Dschungels, in dem grundsätzlich die Freiheit des Stärkeren gilt?
Was für den Freiheitsbegriff gilt, trifft bei Lichte besehen auf alle grossen Worte im philosophischen und politischen Vokabular zu: Sie bleiben ohne präzisierenden Kontext wohlklingende Worthülsen, mit denen Demagogen, Ideologen und Diktatoren fröhlich oder mit gespieltem Tiefsinn ihre Verführungskünste treiben.
Gleichheit und soziale Gerechtigkeit? Hatte im zurückliegenden Bundestagswahlkampf nicht der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Martin Schulz mit dem letzteren Schlagwort sein Glück versucht? Es hat ihm keinen Erfolg beschert, weil offenkundig sehr viele deutsche Wähler die mangelnde Konkretisierung durchschaut haben.
Brüderlichkeit? Das schöne Wort ist zu oft und zu krass missbraucht worden, um in unseren digital vernetzten Konsumgesellschaften noch breite Massen zu elektrisieren. Hatten nicht einst die kommunistischen „Bruderstaaten“ ihre ebenfalls kommunistisch regierten „Bruderländer“ Ungarn und die damalige Tschechoslowakei überfallen?
„Make America great again“? Einiges spricht dafür, dass auch dieser rhetorische Popanz in absehbarer Zeit von einer Mehrheit der amerikanischen Wähler als inhaltsleere Strohpuppe erkannt wird. Ob das auch beim Freiheitsgerede der US-Waffenlobby der Fall sein wird, ist wesentlich zweifelhafter.