Ruhig sitzt er da und blickt nach links oben in die Weite. Das gewellte üppige und bis an den Kittelkragen reichende schwarze Haar ist von grauen Strähnen durchzogen. Auf der gebräunten Gesichtshaut sitzen helle Lichter. Auch die blauen Augen reflektieren eine helle Lichtquelle. Die Augenfarbe korrespondiert mit der Farbe des Hemdes und mit dem Anstrich der Bretterwand, vor der er sitzt: Franz Gertsch, 50 Jahre alt. Sein Selbstporträt ist riesengross, an die vier Meter breit. Der Künstler, am 8. März neunzig geworden, malte es 1980. Es bildet den markanten Schlusspunkt der Ausstellung „Franz Gertsch. Die Siebziger“ im Museum Franz Gertsch in Burgdorf. Eingerichtet hat die Schau Angelika Affentranger-Kirchrath.
Zuerst die Augen
Ein Foto aus der Entstehungszeit des Bildes belegt: Als erstes setzte Franz Gertsch die Augen auf den riesigen Bildgrund. Eigentlich spielt das keine Rolle, denn in seiner Malerei – Gertsch projiziert ein Dia auf die ungrundierte Baumwolle und malt das Bild mit Acrylfarbe minuziös nach – ist alles gleichwertig. Wenn wir nahe an die Riesenformate herantreten, sehen wir: Da ist überall die gleiche Sorgfalt. Jedem Detail lässt er das gleiche Bemühen zukommen, ob es um den Glanz der Augen oder um die Maserung der Bretterwand geht.
Und doch ist es ein Signal, dass er mit diesen Augen beginnt: Darum geht es – um das Sehen, um Malerei als Blick auf die sichtbare Wirklichkeit. Mittel ist die Fotografie. Sie schaltet die Emotion aus und wirkt als Garant für die Neutralität des Malers, der 1969 schrieb: „Es geht nicht mehr um mich: Ich bin nur noch das Werkzeug, das diese Bilder macht. Als ob ich vom Mars käme und einfach das und dieses sähe und alles malen könnte wie es ist. Ich sagte mir, es ist doch ganz einfach, du musst nur das Abstrakte weglassen und einfach die Vorlagen nehmen wie sie sind.“
Das Monte-Lema-Erlebnis
Dieses Jahr 1969 war für Franz Gertsch ein Jahr des Neubeginns. Zuvor war er, nach einigen Jahren sorgsamen Abtastens, ähnlich wie Franz Eggenschwiler oder Markus Raetz, dem Pop schweizerischer Spielart verpflichtet. Doch er suchte nach Neuem. 1969 bestieg er den Monte Lema im Malcantone. Die Rundsicht auf dem Gipfel liess ihn ausrufen: „Jetzt hab ich’s. Ich stand auf dem Gipfel und dachte, die ganze Welt liege vor mir. Ich kann alles machen.“ Das ist mit viel Pathos und Romantik – und auch mit Selbstironie? Wohl kaum! – angereicherte Autobiographie: Gertsch macht das Monte-Lema-Erlebnis zum Wendepunkt und zum Auslöser seines Entschlusses, sein neues Konzept der Malerei zu entwickeln.
So einfach ist es natürlich nicht, wie Gertsch damals schrieb. Die Emotionen verlagern sich. Sie prägen nicht den Augenblick, wie dies in einer expressiven Malerei geschieht. Das Wochen oder gar Monate in Anspruch nehmende Umsetzen der fotografischen Vorlage in die Malerei erfordert eine andere Art der Emotionalität, denn ohne extreme und leidenschaftliche Hingabe an den einmal gefassten Entschluss ist das akribische Durchhalten nicht möglich. Was den ganzen Prozess auch nicht einfach macht, sondern höchst komplex werden lässt: „Diese Bilder“ beruhen auf Fotos, die er selber aufgenommen hat. Sie zeigen Menschen, seine Familie, seine Freunde, in späteren Werken auch Natur. Er wählt aus unzähligen Fotos aus, was er malen will: Warum gerade dieses und nicht andere? Warum gerade diese Menschen und in dieser Pose? Im radikalen Prozess der Ausführung mag er sich als „Werkzeug“ fühlen. Im künstlerischen Konzept und den damit verbundenen Entscheidungen ist er autonom Agierender – und als solcher auch von sehr Persönlichem und Privatem geleitet.
Das Private und das Öffentliche
Zugleich lässt er sich in eine Auseinandersetzung um die Medien ein – um das Medium der Malerei wie um das Medium der Fotografie. Dass er sich dabei auf den Charakter eines bestimmten Farbfilms und seiner Farbtemperaturen – den Blaustich zum Beispiel – einlässt, ist ein Aspekt, ein anderer ist, dass bestimmte Eigenarten der Komposition eines Bildes (zum Beispiel ein angeschnittener Kopf oder die Spontangeste eines Kindes) auf diesen Medien-Diskurs verweisen. Das Foto fixiert den Tausendstel einer Sekunde und zeigt damit einen Ausschnitt der Wirklichkeit, den wir mit dem Auge nicht festhalten können.
Gertschs Malerei wiederum transformiert diesen Tausendstel einer Sekunde in langwieriger Knochenarbeit ins Monumentale und lässt Betrachterin und Betrachter in dieser Winzigkeit einen ganzen Kosmos erfahren – und wohl auch fragen, was denn Wirklichkeit und was das Bild der Wirklichkeit sein mag. In den Werken der 1970er Jahre, um die es in der „Geburtstagsausstellung“ in Burgdorf geht, entwickelt sich so eine enorme Spannung zwischen dem Öffentlichkeitscharakter der Grossformate und der sehr privaten Welt der intimen Bildmotive Gertschs.
Familie und Künstlerfreunde
Diese Motive sind die Familie des Künstlers, seine Frau Maria mit den Kindern beim Picknick oder bei Alltagsverrichtungen, spielende Roma-Kinder in Les Saintes Maries de la Mer oder das Künstlermilieu, in dem Gertsch lebte (Porträts von Urs Lüthi, Markus Raetz oder, im Bild „Kranenburg“ von 1970, eine ganze Freundesgruppe mit Balthasar Burkhard, Jean Christophe Ammann, Pablo Stähli, Markus und Monika Raetz).
In manchen Werken gibt Franz Gertsch auch Einblick in die Welt eines legendär gewordenen Kunstbiotops, das sich in den frühen 1970er Jahren in einer Jugendstil-Villa am Reckenbühl-Hügel in Luzern um den Selbstdarstellungs-Künstler Luciano Castelli bildete. Gertsch weilte damals zur Vorbereitung seiner ersten grossen Ausstellung im Kunstmuseum in Luzern, dessen Leiter Jean-Christophe Ammann ihn mit den rund zwanzig Jahre jüngeren Castelli-Freunden bekannt machte. In der Folge entstanden rund zehn grossformatigen Bilder nach Fotos, die das Leben und Treiben in der Hippie-Atmosphäre in dieser Villa festhalten. Auch in diese Werken öffnen sich Spannungen: Der Blick in die mit rascher Kamera festgehaltenen Intimität des Zusammenlebens der jungen Leute kontrastiert mit der Distanz des Aussenstehenden, der das Geschehen registrierten, ohne sich ihm selber auch hinzugeben.
Reckenbühl
Franz Gertsch widmete sich diesem bunte Treiben der Castelli-Freunde mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit, was zu einer Werkgruppe führte, die auf schlüssige Weise der nun fünfzig Jahre zurückliegenden Atmosphäre bis heute eine starke Präsenz verschafft, der man sich schwer entziehen kann. So ist es folgerichtig, dass das Museum in Burgdorf dieses Geschehen nicht nur in den Malereien Gertschs aufleben lässt, sondern ihm auch eine Kabinett-Ausstellung mit Aquarellen und Objekten und mit zahlreichen Fotografien Luciano Castellis widmet. Was die kurz nach 1950 geborenen jungen Leute trieben, war damals für manche Luzerner ein postpubertärer Hippie-Nonsens, mit langen Haaren, bunten und grellen Kleidern, mächtigen und lärmenden Motorrädern und Exzessen im Drogen-Bereich und mit Protesten aller Art, wie sie dem Zeitgeist entsprachen.
Für andere war das Ganze eine Gesamtkunstwerk mit Malerei, Musik, Tanz und allem, was das Leben bunt und farbig macht: Das Leben als Kunstwerk. Sie sahen in diesem Treiben die mit Lust und Phantasie vorangetriebene Suche nach neuen Lebensformen und den Versuch, Geschlechtergrenzen neu zu erproben und auch zu definieren. Jean-Christophe Ammann liess denn Luciano Castelli auch auftreten in seiner legendären Ausstellung „Transformer – Aspekte der Travestie“, die 1974 im Kunstmuseum Luzern Aufsehen erregte.
Das „Medici“-Bild
Eines der zentralen Bilder Gertschs, mit dem er diese Serie einläutete, ist das acht Meter breite Gemälde „Medici“, das 1972 an der documenta 5 in Kassel Furore machte und auch heute noch eine Art Kult-Status geniesst: Fünf junge Leute, Protagonisten dieser Szene, lehnen sich vor dem Kunstmuseum Luzern an eine Bauabschrankung, die mit dem Namen des Baugeschäftes „Medici“ beschriftet ist.
Die Fünf tauchen auch in der Kabinett-Ausstellung auf – Castellis Freunde auf Fotografien, Castelli selber mit Selbstporträt-Aquarellen und -Fotografien und allerhand glitzernden Shillum-Objekten zum Rauchen von Cannabis-Produkten oder mit Kleinskulpturen in Form rosafarbener und mit kleinen Federn dekorierter intimer Kleidungsstücke wie Strapsen oder Slips.
Ein Blick auf die einzelnen Persönlichkeiten zeigt: Sie waren das Gegenteil von langweiligen Müssiggängern. Sie begehrten für kurze Zeit mit Phantasie auf – und machten später Karriere. Ludwig von Segesser wurde ein bedeutender Professor für Herzchirurgie in Lausanne. Franz Marfurt eröffnete in Zürich ein renommiertes Schmuck-Atelier. This Flüeler wurde Kommunikationsberater. Vanja Palmers, Sprössling der bekannten österreichischen Unternehmer-Familie gleichen Namens, gründete auf der Rigi ein buddhistisches Kloster, wo er heut lebt. Und Castelli selber? Er zog weiter nach Berlin zu den Jungen Wilden um Salome und Fetting, zeigt seine Werke in Museen bis hin nach China und bleibt seiner „Leben als Kunst“-Formel in etwa bis heute treu.
Die Ausstellung vereinigt rund 25 Werke Gertschs aus den 1970er Jahren. Sie waren schon länger nicht mehr zusammen zu sehen, weil sie sich weit verstreut in Museums- oder privaten Sammlungen befinden. Das Kabinett dokumentiert auf anschauliche Weise die erotisch aufgeladene schillernde Welt des Castelli-Freundeskreises in der Reckenbühl-Villa. Für die einen ist dieses Kabinett ein Ort der Erinnerung, für die anderen (jüngeren) ein vielleicht neuer Blick in spannende Aspekte der Luzerner Kulturgeschichte.
Museum Franz Gertsch, Platanenstrasse 3, Burgdorf. Bis 4. Oktober