Seit die Völker am südlichen Ufer des Mittelmeers und im mittleren Osten sich gegen ihre Diktatoren erhoben haben, ist Frankreichs Diplomatie innerhalb nur weniger Wochen hilf- und fast sprachlos geworden. Eine Aussenministerin, die eben zurücktreten musste, ihr Lebensgefährte, der sich mit Ghadhafi eingelassen hatte, ein Premierminister, der knapp vor dessen Sturz sich von Mubarak in den Weihnachtsurlaub einladen liess – und hunderte, professionelle Diplomaten im Quai d'Orsay, die sich erniedrigt fühlen. Nicht zu vergessen: Präsident Sarkozy, der höchstpersönlich eine schwere diplomatische Krise mit Mexiko verursacht hat.
Lange Zeit waren die Worte "Frankreich" und "Diplomatie" fast so etwas wie ein Synonym. Generationen von Diplomaten in aller Welt hatten bei Talleyrand gelernt. Paris war noch bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts ein von allen akzeptierter Ort für grosse Konferenzen zur Lösung schwieriger internationaler Probleme: Vietnam, 4 + 2-Gespräche nach dem Fall der Mauer, dann Ex-Jugoslawien und Kosovo. Heute jedoch, zu Beginn des Jahres 2011, ist die französische Diplomatie innerhalb weniger Wochen im In– und Ausland zum Gespött geworden.
Aussenministerin - nicht mehr zu gebrauchen
Da hat sich zunächst Aussenministerin Michèle Alliot-Marie bezüglich ihres Tunesienurlaubs zu Weihnachten in mindestens ein halbes Dutzend Lügen verstrickt. Während das tunesische Volk schon seit einer Woche im Aufruhr war und man bereits Dutzende Tote zählte, hatte sie - ganz nebenbei - ihren über 90jährigen Eltern bei einem Immobiliengeschäft geholfen. Vater und Mutter von Alliot–Marie kauften die Anteile einer Eigentümergemeinschaft auf, und zwar in einem Luxusimmobilienprojekt an einem im Prinzip naturgeschützten Ort am Meer nahe von Tunis.
Anteile, die dem langjährigen tunesischen Freund der Aussenministerin gehörten, einem der reichsten Geschäftsmänner des Landes, der gleich mehrfach mit der engeren Umgebung von Ex-Diktator Ben Ali verstrickt ist. Im Privatflugzeug eben dieses Mannes hatten die Aussenministerin, ihre Eltern und ihr Lebensgefährte Patrick Ollier zwei kostenlose Inlandsreisen in Tunesien unternommen. Patrick Ollier seinerseits ist ebenfalls französischer Minister und zuständig für die Beziehungen zum Parlament.
Kurz vor ihrer Rückreise nach Frankreich hatte Madame Alliot–Marie auch noch ein TelephongesprÄch mit Ben Ali geführt.
Nun konnte sich die Aussenministerin Frankreichs, die drei Tage vor Ben Alis Flucht den Machthabern in Tunesien auch noch das französische Know How zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung angeboten hatte, in Tunesien schlicht nicht mehr sehen lassen. So musste Frankreich die Finanzministerin schicken, damit endlich, nach zahlreichen anderen europäischen Politikern, auch aus Frankreich ein Regierungsmitglied dem neuen Tunesien seine Aufwartung machte.
Ghadhafi - "mein Bruder
Patrick Ollier, der Lebensgefährte von Michèle Alliot-Marie, musste ebenfalls auf Tauchstation gehen, denn er war als Abgeordneter seit 2004 jahrelang Präsident des libysch-französischen Freundschaftsvereins der Pariser Nationalversammlung. Er brüstete sich damals damit, dass Ghadhafi ihn „mein Bruder“ nannte und verstieg sich Ende 2007 zu dem Satz, Libyens Staatschef verfüge über erstaunliche Entscheidungs- und Analysefähigkeiten. Er besitze eine grosse Kultur und grosses Interesse an der französische Geschichte, ja lese sogar Montesquieu. Im übrigen habe Ghadhafi definitiv der Gewalt und dem Terrorismus abgeschworen und dafür Beweise geliefert.
Seit dem 16. Februar hat Frankreich jetzt einen neuen Botschafter in Tunis. Sein Vorgänger, dem man vorwarf, die Ereignisse in Tunesien nicht vorhergesehen zu haben, war von Präsident Sarkozy quasi über Nacht abgesetzt und durch einen neuen, einen echten „ Sarko-Boy“, ersetzt worden. Dieser Mann zeichnet sich dadurch aus, dass er jung ist (41) und sich auf einer Webseite gut gebräunt und mit Waschbrettbauch in der Badehose präsentiert. Er war ein Jahr lang diplomatischer Berater im Elyséepalast und scheint seine Gestik und seinen Sprachstil vom Präsidenten übernommen zu haben. Er trägt eine ähnlich grosse Uhr am Arm wie Nicolas Sarkozy dies früher zu tun pfegte. Als „Sarko-Boy“ leitere er zuvor schon 18 Monate lang die Botschaft in Bagdad. Dort hatte er unter anderem den Spruch getan: „Der Irak ist eine echte Versuchsanstalt. Dort wird wirklich über die Zukunft der Demokratie in dieser Region entschieden. Und ob das gefällt oder nicht – dies konnte nur durch die amerikanische Intervention 2003 erreicht werden“ .
Da explodierte der Herr Botschafter
Doch kaum hatte dieser derart befähigte neue Mann Frankreichs jetzt den Fuss auf tunesischen Boden gesetzt, jagte ein Patzer den anderen. Es begann damit, dass Paris es nicht mal als der Mühe Wert empfunden hatte, die tunesische Seit vor der Ernennung des neuen Botschafters zu konsultieren - so als würde man in der französischen Hauptstadt die einfachsten Usancen des diplomatischen Betriebs nicht mehr kennen.
Dann lud der neue Mann, zwei Tage nach seiner Ankunft, einige tunesische Journalisten zum Essen und zum Dialog in die Botschaft - ein Dialog, der gefilmt wurde. Als ihn eine Journalistin befragte, inwieweit denn seiner Meinung nach die Tunesien-Vergangenheit der französischen Aussenministerin ein Problem für die künftigen bilateralen Beziehungen sein könnte, explodierte der Herr ein erstes Mal mit den Worten: „Ich lasse mich nicht auf ein so debiles Terrain zerren, ich bin hier, um ihnen meine Philosophie darzustellen, aber nicht um mich so befragen zu lassen.“
In seiner Agressivität und seiner Körpersprache glich er in diesem Moment verblüffend seinem Mentor, Präsident Sarkozy.
Nach dem Essen gab Frankreichs neuer Botschafter dann einem Lokalfernsehen noch ein Interview – auf arabisch, immerhin. Doch auch dies ging nicht lange gut. Die Journalistin wollte wissen, ob er für diesen Posten in dieser heiklen Sitaution nicht ein wenig jung sei und es ihm an Erfahrung mangele.
Da stiess Sarkos Boy in Tunesien mit einer Handbewegung das Mikrophon zurück, erhob sich fluchend und sprach davon, dass derartige Fragen wohl das letzte seien. Er als Botschafter Frankreichs sei nicht dazu da, solche Fragen auch noch zu beantworten. Er nahm die Aktentasche und verlies den Raum. Nicolas Sarkozy hatte sich 2007 während eines CBS-Interviews im Elysée vor drei Kameras exakt genau so verhalten, als die Interviewerin es gewagt hatte, ihn nach seinem Eheleben mit Cecilia zu fragen.
**Botschafter - "Hau ab!"
Am Tag nach der denkwürdigen Vorstellung des neuen französischen Botschafters demonstrierten über 500 Tunesier vor der Botschaft Frankreichs. Sie forderten auf Spruchbändern vom Hausherren, was sie zwei Monate vorher von Ben Ali gefordert hatten: „Dégage - Hau ab“. Auf einer Tafel war gar zu lesen, man möge diesen Botschafter, dieses "Paket Scheisse", nach Paris zurückschicken.
So glänzend präsentiert sich derzeit Frankreichs Diplomatie. Präsident Sarkozy und niemand sonst trägt die schwere Verantwortung, sie in diese Lage manövriert zu haben. Gewiss: die Aussenpolitik ist in Frankreich seit über einem halben Jahrhundert die so genannte „reservierte Domäne“ des Staatspräsidenten. Doch Nicolas Sarkozy hat jetzt seit bald vier Jahren, wie kein anderer Präsident vor ihm in der 5. französischen Republik, das Personal des französischen Aussenministeriums und die geradezu tragisch-pathetische Figur des bis November 2010 amtierenden Aussenministers Bernard Kouchner erniedrigt, ihn zu einem Statisten degradiert.
Er hat dem diplomatischen Corps zu verstehen gegeben, dass er seine Arbeit gering schätzt und ganz unverfroren Frankreichs Aussenpolitik von einem Art Schattenkabinett im Elyséepalast betreiben lassen. Nicolas Sarkozys aussenpolitischer Chefberater, Jean David Levitte, aber vor allem der Generalsekretär des Elyséepalastes, Claude Guéant, dem man den Spitznamen "Richelieu" verpasst hat, sind seit mehr als drei Jahren Frankreichs wahre Aussenminister.
Was in Tunesien und später in Ägypten geschah, hatte im Elyséepalast aber offenischtlich kein Mensch kommen sehen. Und als das Desaster dann da war, waren plötzlich die Fachleute im Aussenministerium und die Zuständigen in den jeweiligen Botschaften schuld.
Frankreichs Diplomatie - "amateurhaft, impulsiv, kurzfristig"
Gegen diese Attitude an allerhöchster Stelle des Staates haben nun mehrere Dutzend Diplomaten, noch aktiv oder im Ruhestand, anonym in einem Offenen Brief in der Tageszeitung "Le Monde" vehement protestiert.
Protestiert, dass man sie seit Jahren nicht mehr anhört und Frankreichs Diplomatie amateurhaft, impulsiv und von kurzfristigen Kommunikationsstrategien bestimmt sei. Wörtlich schreiben sie: „Es ist klar, dass der Staatschef die staatlichen Verwaltungen nicht besonders schätzt, sie ostentativ mit Verachtung straft und sie für die Pannen seiner Politik verantwortlich zu machen versucht.“ Und sie resümieren die französische Diplomatie der letzten Jahre mit den Sätzen: „Was für Rückschläge für unsere Politik! Entegegen der seit drei Jahren hinausposaunten Ankündigungen ist Europa heute machtlos, Afrika entgleitet uns, das Mittelmeer zeigt uns die kalte Schulter, China hat uns gezüchtigt und Washington ignoriert uns.“
Einer von Präsident Sarkozys wichtigsten Beratern, sein Redenschreiber für historisch-chauvinsitisch-nationalistische Themen, tat diesen offenen Brief einfach als "politisches Flugblatt" ab.
Affront gegenüber Mexiko
Doch nicht nur im Mittelmeerraum ist Frankreichs Diplomatie auf dem Abstellgleis. Gegenüber Mexiko hat der französische Präsident jetzt höchstselbst einen derartigen diplomatischen Faux-Pas begangen, dass über Nacht die zum Teil mehrjährige Arbeit von Aberhunderten Kulturschaffenden zunichte gemacht wurde. Unklar bleibt, ob dies kalkuliert oder Ausdruck einer überstürzten Reaktion war.
Im Rahmen des „Mexiko-Jahres“ in Frankreich waren bis Dezember 2011 bei einem Budget von über 50 Millionen Euro mehr als 300 Kulturveranstaltungen - Ausstellungen, Konzerte, Filmfestivals oder wissenschaftliche Kolloquien - geplant. Jetzt aber hat sich Mexiko von diesem Vorhaben praktisch über Nacht zurückgezogen, und zwar aus Protest gegen Präsident Sarkozys provozierende Ankündigung, er werde dieses Mexiko-Jahr einer jungen Französin widmen: Florence Cassez.
Diese junge Frau war von der mexikanischen Justiz in einem in der Tat zweifelhaften gerichtlichen Verfahren wegen Beihilfe zur Entführung zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Frankreich bemüht sich jetzt seit Jahren vergeblich um ihre Freilassung. Präsident Sarkozy hat die Affäre zur Chefsache gemacht. Als nun das höchste mexikanische Gericht eine Revision des Prozesses gegen die junge Französin ablehnte, holte Frankreichs Präsident sofort die grosse Pauke hervor, trat vor die Kameras und erklärte, er werde das Mexikojahr in Frankreich zwar nicht absagen, es aber Florence Cassez widmen.
Äusserungen, die Mexiko als Affront betrachten musste, als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. Nur vier Stunden später erklärte das Land, es werde an den Kulturveranstaltungen nicht mehr teilnehmen. Der Rückzug Mexikos aber, das den Grossteil der Finanzierung dieses Mexikojahres trägt, bedeutet: Hunderte Flugtickets mexikanischer Künstler sind nicht mehr finanziert, Kunstwerke für Ausstellungen werden zurückgeholt oder kommen erst gar nicht, Versicherungssummen sind nicht mehr abgedeckt. Überall in Frankreich sind Veranstalter und Verantwortliche fassungs-und sprachlos. Auch der Direktor des Pariser Orsay-Museums findet seit Tagen keine Worte und sieht die grosse, geplante Schau mexikanischer Kunst von 1810 bis 1920 in seinem Museum gefährdet. Andere haben bereits resigniert aufgeben.
Spontaner Ritt durch den Porzellan-Laden
Das kleine, aber feine gallo-romanisches Museum in Saint–Romain–en–Gal im Rhonetal bei Vienne zum Beisppiel hatte 200 Werke der alten Kulturen von Veracruz, die Mexiko zuvor noch nie verlassen hatten, ausgepackt, um sie, in Anwesenheit mexikanischer Experten, wenige Tage später wieder einzupacken.
Das Museum der modernen Künste in Bordeaux weiss zur Stunde nicht, ob seine seit langer Hand geplante, grosse Diego Rivera-Ausstellung am 10. März die Pforten öffnen kann. Das Layout des Katalogs ist fertig, das Plakat für die Ausstellung auch, über ein Jahr hat man an diesem Projekt gearbeitet und will die Hoffnung nicht aufgegeben.
Das einzige grosse private Pariser Museum, die Pinakothek aber, hat keine Hoffnung mehr. Sie hat eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres bereits abgesagt: eine Ausstellung von ganz selten gezeigten Jade-Masken der Mayas. Der Direktor beziffert den Schaden auf 6 Millionen Euros und lässt durchblicken, er werde Schadenersatz fordern. Absagen drohen unter anderem bei Musikfestivals in Belfort und Toulouse, bei den Fototagen in Arles und beim Festival d'Automne in Paris.
Selbst ein Parteifreund des Präsidenten, der konservative Senator und Bürgermeister von Biarritz, dessen Stadt ebenfalls die Annulierung mehrerer Veranstaltungen zu fürchten hat, kocht vor Wut über die Konsequenzen von Nicolas Sarkozys spontanem Ritt durch den Porzellanladen. "Die französische Diplomatie", so wettert er, "war arrogant. Man behandelt die Institutionen einer Demokratie mit über 100 Millionen Einwohner nicht auf diese Art. Man stellt Entscheidungen mexikanischer Gerichte und des Kassationsgerichtshofs nicht so leichtfertig in Frage, wie Frankreich das getan hat."
Sarkozy - "Diktator einer Bananenrepublik
Und die protestierenden Diplomaten wiesen in ihrerm Offenen Brief in "Le Monde" darauf hin, dass die Angelegenheit Florence Cassez geradezu ein Paradebeispiel für eine Affäre sei, die nur durch absolute Diskretion und geduldige Diplomatie und nicht durch lautstarkes Getrampel mit den überhöhten Absätzen gelöst werden könne. Nun ist gehörig Porzellan zerschlagen, der jungen Französin in ihrem mexikanischen Gefängnis damit aber nicht geholfen, im Gegenteil.
Alles in allem also ein Fiasko, wie "Le Monde" letzte Woche auf ihrer dritten Seite schrieb. Ein Fiasko auch für das Image Frankreichs. Mexikos grösster lebender Schriftsteller, Carlos Fuentes, ging so weit zu sagen, Nicolas Sarkozy habe sich in dieser Angelegenheit verhalten, wie der Diktator einer Bananenrepublik.
Lichtjahre scheinen vergangen zu sein, seit General De Gaulle 1964 in Mexiko City von 300'000 Mexikanern bejubelt wurde und auf Spanisch, in einer auswendig gelernten Rede, den berühmt gewordenen Satz sprach: „ El pueblo frances propone al pueblo mexicano: marchemos la mano en la mano“. Sieht man die Fernsehreportage von damals, sagt man sich: Der Unterschied in der Grösse zwischen dem ersten und dem derzeitigen Präsidenten der 5. französischen Republik ist nicht nur eine Frage der Körpergrösse.