48,7 Millionen Wahlberechtigte sind heute im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen an die Urnen gerufen, um zu entscheiden, welche zwei unter den zwölf verschiedenen Kandidatinnen und Kandidaten in die entscheidende Stichwahl am 24. April kommen.
Wenn heute Abend um 20 Uhr zwischen Dunkerque und Perpignan, zwischen Strasbourg und Brest die letzten Wahllokale schliesssen, wird am Ende eines amputierten, höchst ungewöhnlichen und fast gespenstischen Wahlkampfs, in dem es letztlich keinerlei echte Debatten gab und der die Franzosen lange Zeit so gut wie gar nicht angesprochen hat, klar sein, ob es nun eine von vielen herbeigeschriebene bzw. befürchtete Überraschung geben wird oder nicht.
Für eine Überraschung gäbe es zwei Möglichkeiten.
Erstens
Die Unwahrscheinlichste, die aber aus lauter Vorsicht und angesichts ungewöhnlich vieler Ungewissheiten in diesem Wahlkampf unter Frankreichs Experten niemand völlig ausschliessen will: Der Linksaussen und Ex-Sozialist, Jean-Luc Mélenchon, verwirklicht seinen Traum und schafft es bei seiner dritten Präsidentschaftskandidatur tatsächlich im letzten Moment und wie durch ein Nadelöhr an Marine Le Pen vorbei ins Finale am 24. April.
Die Tatsache, dass die Kandidaten der Grünen, der gerade völlig verschwindenden Sozialistischen, sowie der seit 30 Jahren gerade noch überlebenden Kommunistischen Partei heute Abend mit geradezu erbärmlichen 5 bis 2% rechnen dürfen, führte in den letzten zwei Wochen dazu, dass immer mehr linke Wähler sich offensichtlich sagen: Wenn ich zur Wahl gehe und mit meiner Stimmabgabe auch nur den Hauch einer Hoffnung verbinden will und dafür sorgen kann, dass es nicht erneut zu einem Duell Macron-Le Pen kommt, dann stimme ich an diesem Sonntag für Jean-Luc Mélenchon.
Letzterer schaffte es in den Meinungsumfragen der letzten Tage auf 16 bis 17%. Doch auch damit fehlen ihm noch 5 bis 6 Prozentpunkte, um zu Marine Le Pen aufzuschliessen.
Zweitens
Die Kandidatin der extremen Rechten, die im Lauf des letzten Monats satte 7% zugelegt und sich ihres noch rechtsradikaleren Konkurrenten, Eric Zemmour (8,5%), entledigt hat – sie lag an diesem Freitag in den Umfragen bei 21 bis 23%. Das ist beachtlich, aber – man erinnere sich – ihr Ergebnis im 1. Wahlgang 2017 lautete damals schon: 21,3%!
Die wirkliche Überraschung von ihrer Seite wäre, wenn sie zu Macron, dem amtierenden Präsidenten und Kandidaten, der sich zur Wiederwahl stellt, aufschliessen könnte.
Für das Ergebnis von Marine Le Pen heute Abend wird absolut entscheidend sein, wie viele Wähler unter den Unterprivilegierten und Abgehängten der französischen Gesellschaft, unter der Bevölkerung der fernen Peripherie und des vernachlässigten flachen Landes – im Prinzip Le Pens grösstes Wählerpotential –, sich letztlich doch noch aufraffen und häufiger als erwartet zur Wahl gehen. Denn angesichts der drohend niedrigen Wahlbeteiligung von nur rund 70% gilt es, daran zu denken, dass gerade im Wählerpotential von Le Pen die Bevölkerungskategorien besonders stark vertreten sind, die am allerwenigsten zur Wahl gehen: die Schlechtverdienenden mit niedrigem Bildungs- und Ausbildungsniveau in den wirtschaftlich heruntergekommenen und vergessenen Landstrichen Frankreichs. Marine Le Pen weiss das sehr wohl. Von daher ihr Slogan der letzten Wahlkampftage: «Wenn das Volk wählt, gewinnt das Volk».
Macron
Auf der anderen Seite könnte auch Emmanuel Macron unter einer niedrigen Wahlbeteiligung leiden. Denn allzu lange hatte bis vor wenigen Wochen das Gefühl vorgeherrscht: Die Wahl ist im Grunde gelaufen, der amtierende Präsident liegt in den Umfragen so weit vorne, dass ihm nichts mehr passieren kann, warum dann überhaupt noch wählen gehen.
Doch plötzlich, innerhalb der letzten 2 bis 3 Wochen, gingen Macrons Umfragewerte deutlich nach unten, während die von Marine Le Pen, die sich auf ihren letzten Wahlplakaten als «Femme d’ Etat», als Staatsfrau betitelt, rasant anstiegen.
Am Freitag sagten die Meinungsforscher dem Präsidenten noch 26 bis 27% voraus, was eigentlich ein gutes Ergebnis wäre und 2 bis 3% über dem läge, das Macron im ersten Wahlgang vor fünf Jahren erzielt hatte (24%).
Ein Hauch von Panik
Und doch weht durch die Artikel fast aller französischen Kommentatoren in den letzten Tagen ein kräftiger Hauch von Ungewissheit, Verunsicherung und Sorge, verbunden mit der Befürchtung, Marine Le Pen und Emmanuel Macron könnten sich heute Abend sozusagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. In der europäischen und amerikanischen Presse ist dieser Tenor sogar noch deutlicher zu vernehmen.
Niemand will ausschliessen, dass sich die positive Tendenz der letzten Wochen für Marine Le Pen auch in den letzten 96 Stunden nach den letzten Wählerbefragungen noch fortgesetzt hat.
Ja selbst der Direktor der grossen Tageszeitung «Le Monde», der nur in Ausnahmefällen selbst zur Feder greift und einen Leitartikel schreibt, sah sich gestern gemüssigt zu betonen, dass zwei Kandidaturen, nämlich die von Zemmour und Le Pen, ganz und gar unvereinbar seien mit den Prinzipien seiner Zeitung, umso mehr, als sie im Gegensatz stünden zu den republikanischen Werten, zum nationalen Interesse und zum Image Frankreichs in der Welt. Der Titel der Ausgabe von «Le Monde» gestern: «Extreme Rechte und geringe Wahlbeteiligung – die Gefahren des 1. Wahlgangs».
Sorgen für die Stichwahl
Sollten Marcron und Le Pen heute Abend tatsächlich Kopf an Kopf liegen oder Le Pen sogar knapp vor Macron, dann müsste man sich um das Endergebnis am 24. April tatsächlich Sorgen machen.
Es würde eine Dynamik in Gang kommen, bei der nicht mehr sicher ist, ob Macron den Spiess innerhalb von 14 Tagen noch umkehren kann.
Dazu kommt: Sowohl der Linksaussen, Jean-Luc Mélenchon, als auch die Kandidatin der Konservativen, «Les Républicains», Valérie Pécresse, haben sich bereits im Vorfeld geweigert, ihren Wählern des ersten Durchgangs für die Stichwahl eine Empfehlung zu geben. Mit anderen Worten: Beide werden Frankreichs Wähler nicht dazu aufrufen, Marine Le Pen mit allen Mitteln zu verhindern.
Im Grunde ist dies der endgültige Beweis dafür, dass die seit Jahrzehnten immer wieder bemühte und beschworene «Republikanische Front», die eine Machtübernahme durch die extreme Rechte und die Le Pens lange Zeit verhindert hat, im Jahr 2022 endgültig ausgelebt hat, ja tot ist.
Macrons spätes Erwachen
Ausgerechnet jetzt und gehörig spät beschwor plötzlich kein geringerer als Emmanuel Macron selbst erneut diese «Republikanische Front», indem er auf den letzten Drücker wiederholt davon sprach, man müsse «von den Sozialdemokraten bis zu den Gaullisten» eine permanente Front gegen die extreme Rechte bilden. Das klingt fast ein wenig nach Panik.
Nicht zufällig ist selbst in Macrons Umfeld in den letzten Tagen unüberhörbar Kritik laut geworden, wonach der Präsident einfach zu spät in den Wahlkampf eingestiegen sei, den Eindruck vermittelt habe, als könne er ihn einfach so überfliegen und es kein guter Gedanke gewesen sei, dass sich Macron jeder direkten Diskussion mit seinen Gegnern entzogen hat. Am Ende dieses Wahlkampfs auf absoluter Sparflamme blieb – wieder einmal – der Eindruck, dass der Präsident dem Volk eine gewisse Geringschätzung und nicht genügend Respekt entgegenbringt.
Das Ende der einst staatstragenden Parteien
Schon vor Schliessung der Wahllokale heute Abend ist klar: Emmanuel Macron, der bereits mit seinem Wahlsieg 2017 Frankreichs Parteienlandschaft gründlich zertrümmert hat – und die beiden traditionellen Regierungsparteien, damals vor allem Frankreichs Sozialisten, aber auch die konservativen «Les Républicains» auf beeindruckende Weise dezimiert hatte –, er hat dieses Zerstörungswerk in den letzten fünf Jahren sogar noch fortgesetzt.
Denn am Ende seiner erster Amtszeit ist die Situation dieser beiden Parteien heute noch um ein ganzes Stück katastrophaler als vor fünf Jahren, ja es scheint sogar schon ausgemacht, dass beide Parteien diese Präsidentschaftswahlen nicht lange überleben werden. Ganze 2% sagt man der Vertreterin der Sozialisten, Anne Hidalgo, voraus, nur knapp 9% Valérie Pécresse, der Kandidatin der ehemaligen Chirac- und Sarkozy-Partei, der konservativen «Les Republicains». Ein Desaster.
Währenddessen hat es der amtierende Präsident, wie man sieht, absolut nicht geschafft zu tun, was er bei seinem Amtsantritt versprochen hatte, nämlich bis zum Ende seiner Amtszeit die extreme Rechte im Land zu dezimieren. Ja, das Gegenteil ist eingetreten und Marine Le Pen ist heute gefährlicher denn je.
Und die Grünen ?
So vieles sprach eigentlich dafür, dass Frankreichs Grüne auch bei einer Präsidentenwahl diesmal ein wenig aus der Versenkung herauskommen. Klimakatastrophe und Energiedebatte – hier waren sie die Vorreiter und viele andere hecheln ihnen seitdem hinterher. Zudem hatten sie bei Regional- und Kommunalwahlen zuletzt beachtliche Ergebnisse eingefahren, regieren plötzlich in Städten wie Marseille, Lyon, Grenoble und Bordeaux und ihr Präsidentschaftskandidat, Yannick Jadot, ein Realo, kompetenter Europaabgeordneter und ehemaliger Weggefährte von Daniel Cohn-Bendit muss sich eigentlich vor niemandem verstecken. Und doch scheint sich auch diesmal nichts geändert zu haben an der Tatsache, dass bei französischen Präsidentschaftswahlen seit über 20 Jahren grüne Kandidaten bestenfalls auf ein wenig mehr als 5% kommen. So viel oder kaum mehr sagte man dieser Tage auch Yannick Jadot voraus.