Auslöser für diese Atomdebatte , die in Frankreich - und das ist höchst selten - die Aktualität der ganzen letzten Woche beherrscht hat, ist ein unter größten Schwierigkeiten und über Monate hinweg ausgehandeltes programmatisches Abkommen zwischen der Sozialistischen Partei und den französischen Grünen. Man könnte auch von einer Art Wahlabkommen sprechen, mit Blick auf die Parlamentswahl im Juni nächsten Jahres, die nur sechs Wochen nach der Präsidentschaftswahl stattfinden wird.
Ein Abkommen, das auf 25 Seiten eine Reihe von Grundsätzen festschreibt und das dazu dient, dass die französischen Grünen, angesichts des Mehrheitswahlrechts bei den Parlamentswahlen, überhaupt Abgeordnete in die Assemblée Nationale entsenden, respektive - und das wäre bislang einzigartig in diesem Land - eine eigene Fraktion bilden können.
Sozialisten und Grüne raufen sich zusammen
Frankreichs Sozialisten treten den Grünen dafür 60 Wahlkreise ab, in 15 bis 30 davon könnte ein grüner Kandidat gewinnen. Im Gegenzug werden die Grünen nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl den sozialistischen Kandidaten Hollande unterstützen und haben zugesagt, im Falle eines Wahlsiegs der Linken bei den Präsidentschafts- und den anschliessenden Parlamentswahlen, in der Assemblée Nationale bei der Verabschiedung der wichtigsten Gesetze mit der sozialistischen Fraktion zu stimmen.
Frankreichs Sozialisten bewegen sich bei der Atomenergie Eines ist in diesem gemeinsamen Abkommen, das für die Legislaturperiode 2012 bis 2017 gelten soll, fast historisch zu nennen: Frankreichs sozialistische Partei ( PS) vollzieht erstmals seit fünf Jahrzehnten eine Wende von einem 100-prozentigen Pro-Atomenergie-Kurs in Richtung Teilausstieg!
Zähflüssige Verhandlungen
Denn am Ende der monatelangen Verhandlungen über das programmatische Abkommen, waren Frankreichs Sozialisten nun bereit, zumindest der Abschaltung der 20 ältesten Atommeiler bis zum Jahr 2025 zuzustimmen und den Energiemix des Landes zugunsten erneuerbarer Energien deutlich zu ändern. Ein Paragraph - um den allerdings bis zuletzt ein peinlich-groteskes, schmierenkomödiantisches Verwirrspiel zwischen Sozialisten und Grünen über die Bühne ging - spricht sogar von einer langsamen Umwidmung der atomaren Wiederaufarbeitung und einem schrittweisen Abbau der Produktion des umstrittenen und besonders gefährlichen Brennelementes MOX , welches Plutonium enthält.
Francois Hollande, der gekürte Präsidentschaftskandidat der Sozialisten , hatte schon während des Vorwahlkampfs um die Kandidatur betont: "Ich sage bis zum Jahr 2025 muss der Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung von heute 75 auf 50 Prozent verringert werden. Damit machen wir im selben Zeitraum die gleiche Anstrengung wie die Deutschen, die ihren Anteil von 22 auf ein oder zwei Prozent reduzieren."
Wäre Parteichefin Aubry, die seit Juni die Verhandlungen mit den Grünen geführt hatte, Präsidentschaftskandidatin geworden, wäre die Atomenergie in diesem gemeinsamen Programm vielleicht sogar noch weitgehender in Frage gestellt worden. Sie hatte nach Fukushima sogar öffentlich gesagt, sie wolle Überlegungen über einen Atomausstieg Frankreichs nicht mehr ausschliessen.
Atomlobby fâhrt schweres Geschütz auf
Dass dieser Schritt der Sozialisten hin zu einem Terilausstieg neu und ernst zu nehmen ist, mag man auch daraus ersehen, dass die berühmte Atomlobby Frankreichs bis zum letzten Moment schwerstes Geschütz aufgefahren hat. Der Chef des Stromkonzerns EDF verstieg sich zu den Worten, ein Ausstieg aus der Atomenergie würde die französische Wirtschaft ruinieren und eine Million Arbeitsplätze kosten.
De facto sind direkt und indirekt nur, aber immerhin rund 400 000 Menschen in der französischen Atomwirtschaft beschäftigt. Und der Atomkonzern AREVA ging sogar so weit, führende Sozialisten bis zum letzten Moment mit Nachrichten auf ihren Handys zu bombardieren, sie sollten das Abkommen nicht unterzeichnen.
Sarkozys Pathos
Der konservative Figaro titelte : "Die Linke bringt die französische Atomwirtschaft in Gefahr" , Premierminister Fillon äusserte sich - was gegen die Gewohnheiten verstösst- aus dem Ausland, aus Moskau zu diesem innenpolitischen Thema und sprach davon, dieses Abkommen sei für die Sozialistische Partei eine grosse Niederlage und für ganz Frankreich eine grosse Gefahr, sollte die Linke im nächsten Frühjahr gewinnen.
Staatspräsident Sarkozy schliesslich hat letzte Woche höchstpersönlich vor Hunderten von Industriellen des Landes mit viel Pathos in der Stimme , ja fast feierlich betont : "Frankreich - das ist die Atomenergie. Aus dieser Energie aussteigen, bedeutet beträchtliche Schäden für unsere Industrie und Sie, meine Damen und Herren, müssten die Energie, die ihre Betriebe brauchen, 40 Prozent teurer bezahlen. Keiner von ihnen würde das überleben. Alle politischen Familien des Landes haben diese einzigartige nationale Anstrengung mitgetragen, die es Frankreich ermöglicht hat, in der Atomenergie an erster Stelle zu stehen. Ich werde nicht zulassen, dass man diesen Vorteil Frankreichs verschleudert."
Expertenbericht beflügelt Atomdebatte
Nach den Ereignissen dieser Woche besteht kaum Zweifel darüber, dass die Atomenergie im langsam beginnenden französischen Präsidentschaftswahlkampf diesmal ein echtes Thema werden wird. Das staatliche Institut für Strahlenschutz und Reaktorsicherheit ( IRSN ) hat zudem gleichzeitig auch noch einen 500 Seiten starken Bericht vorgelegt hat , welcher - angesichts von Naturkatastrophen, wie man sie bislang nie in Erwägung gezogen hatte - beträchtliche und sehr kostenintensive Nachbesserungen für die Sicherheit einer ganzen Reihe von französischen AKWs fordert.
Besonders betroffen davon sind 3 AKW Standorte - darunter Fessenheim - in Erdbeben gefährdeten Gebieten, 4 weitere an Flüssen, wo es zu Überschwemmungen kommen könnte und drei, die sich in der Nähe von gefährlichen Industrieanlagen befinden. Diese Schlussfolgerungen des Instituts für Strahlenschutz und Atomsicherheit dürften die aufkommende Atomdebatte nur noch weiter beflügeln.
Der Chef der französischen Atomaufsicht ASN schliesslich, die sich nach und nach tatsächlich immer unabhängiger präsentiert, hat nach der Vorlage des Expertenberichts sehr unzweideutig gesagt, man werde dem AKW-Betreiber, dem französischen Stromkonzern EDF, Vorschriften und Termine für die Nachrüstung der Atomreaktoren vorlegen. Würden diese vom Betreiber nicht eingehalten, müssten die jeweiligen Atomanlagen geschlossen werden. Töne wie man sie von dieser Behörde in Jahrzehnten bislang nie gehört hat.
Keine Frage: Fukushima hat auch in Frankreich , und nicht nur bei der Sozialistischen Partei, seine Spuren hinterlassen.
Hilft es Hollande?
Ob sich jedoch diese veränderte Haltung der französischen Sozialisten hinsichtlich der Atomenergie bei den Wahlen für Spitzenkandidat Hollande wirklich positiv niederschlagen wird, darf bezweifelt werden. Angesichts der Krise, der Desindustrialisierung und jüngster Massenentlasssungen, hat das Thema Arbeitsplätze bei den Wählern mit Abstand die höchste Priorität - Atomenergie rangiert in Umfragen ganz weit hinten. Das Argument, wonach erneuerbare Energien eben so viele Arbeitsplätze schaffen könnten, wie die französische Atomwirtschaft jetzt vorzuweisen hat, wird von den Wählern eher skeptisch aufgenommen.
Vor allem angesichts der Tatsdache, dass Frankreich -gerade auf Grund der seit Jahrzehnten alles beherrschenden Atomenergie - bei der Technologie für erneuerbare Energien im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bereits um mehr als ein Jahrzehnt in Rückstand geraten ist.