Das rechtsextreme «Rassemblement National» ( RN), die Partei von Marine Le Pen, feiert in den letzten Wochen einen Sieg nach dem anderen. Präsident Macron und seine Partei wirken wie gelähmt, ein Teil der geschwächten Konservativen hechelt den Rechtsextremen hinterher, und die Linke hat ohnehin nichts mehr zu melden.
«En Marche» hiess Emmanuel Macrons Bewegung, als sich der damals 37-Jährige 2016 aufmachte, im Jahr darauf die Macht zu erobern.
Mehr als sieben Jahre später marschiert dieser einst von Zentristen, ehemaligen Sozialdemokraten bis hin zu Daniel Cohn-Bendit umjubelte Präsident stramm nach rechts und noch weiter.
Wohin des Wegs ?
Ein Präsident, seit über sechs Jahren im Amt, der seit Beginn seiner zweiten Amtszeit den Eindruck erweckt, dass er definitiv nicht mehr weiss, wohin er den Karren Frankreich nun ziehen soll, und nur noch so tut, als könne er überhaupt etwas bewegen.
Einer der zwar ständig davon redet, den Franzosen ein «Cap», ein Ziel, vorzugeben, dieses Ziel aber niemals näher umschreibt – das «Cap» bleibt eine Worthülse und Macron und seine Partei irren seit 18 Monaten wie kopflose Hühner durch die politische Landschaft Frankreichs.
Macron erweckt den Eindruck, dass er keinerlei eigene Vorstellungen mehr hat, sondern nur noch dem immer rechtslastigeren Zeitgeist im Land hinterherläuft.
Sein ursprünglicher Anspruch, das politische Leben Frankreichs zu entkrusten, die Demokratie revitalisieren zu wollen und seine Ankündigung, wonach er eine Politik praktizieren wolle, die sowohl rechts, als auch links sei – all dies ist inzwischen Schnee von gestern und endgültig auf dem Abfallhaufen der Geschichte gelandet.
Macron und die Macronie – sie sind mittlerweile nicht nur in der Wirtschaftspolitik stramm rechts.
Hätte es noch eines Beweises bedurft, das mehrwöchige Drama um ein neues Immigrationsgesetz hat ihn dieser Tage geliefert.
Immigrationsgesetz
Eigentlich könnte Emmanuel Macron eher souverän handeln und sich vor allem darum kümmern, die immer schlimmeren Brüche in der französischen Gesellschaft zu kitten und sich um Ausgleich und Befriedung im aufgewühlten Frankreich bemühen.
Denn: Bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2027 darf er nicht mehr antreten und muss folglich auch keinen Wahlkampf mehr führen.
Stattdessen hat sich der Präsident zu Beginn seiner zweiten Amtszeit darauf versteift, ein dezidiert heikles und explosives Thema in Angriff zu nehmen und ein neues, ein weiteres Immigrationsgesetz auf den Weg bringen zu wollen.
Wie sensibel das Thema ist, mag man daraus ersehen, dass Macrons Regierung das Gesetzesvorhaben 18 Monate lang vor sich hergeschoben hat, um damit jetzt letztendlich einen historischen, politischen und moralischen Schiffbruch zu erleiden. Um es vorwegzunehmen und es kurz zu sagen: Mit dem in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch von der Nationalversammlung verabschiedeten Gesetz haben sich der Präsident und 75 Prozent der Abgeordneten seiner Partei, die sich inzwischen «Renaissance» nennt, von der extremen Rechten und den immer extremer werdenden Konservativen «Les Républicains» ( LR) – einst die Partei von Chirac oder Sarkozy – über den Tisch ziehen lassen wie die blutigsten Anfänger.
Zunächst gilt es anzumerken, dass allein in den letzten 30 Jahren ohnehin schon mindestens 20 neue Ausländergesetze verabschiedet wurden, das letzte erst während der ersten Amtszeit von Präsident Macron. Warum unbedingt ein weiteres hinterherschieben, fragten sich viele in Macrons eigener Partei.
Und selbst der allerengste Vertraute des Präsidenten, Alexis Kohler, seit bald sieben Jahren allmächtiger Generalsekretär des Élyséepalastes, soll die Absicht, ein weiteres Ausländergesetz auf den Weg zu bringen, laut «Le Canard Enchainé» schon vor über einem Jahr als «connerie», als Blödsinn bezeichnet haben. Als hätte er vorausgesehen, was da kommen wird.
Ausgewogen? Am Ende streng rechts
Die Regierung hatte einen Gesetzesvorschlag erarbeitet, den sie als ausgewogen bezeichnete. Auf der einen Seite etwas härtere Zugangsbeschränkungen, auf der anderen Seite die Möglichkeit, Ausländer ohne Papiere, die in Sparten arbeiten, welche händeringend nach Arbeitskräften suchen, zu legalisieren.
Das Problem: Die Regierung und mit ihr der Präsident haben im Parlament nun mal nur eine relative und keine absolute Mehrheit. Den konservativen «Les Républicains» – vom rechtsextremen Rassemblement National ganz zu schweigen – ging dieser Vorschlag aber nicht weit genug. Also mussten im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens Zugeständnisse gemacht werden, vor allem an die über 60 Abgeordneten der traditionellen Konservativen, «Les Républicains».
Selbige hatten plötzlich Blut geleckt und verhielten sich, als möchten sie Le Pens «Rassemblement National» noch weiter rechts überholen. Allen voran ihr Parteivorsitzender, Eric Ciotti, ein ständig tönender Lautsprecher und Rechtsausleger der Konservativen, der eher heute als morgen auch bei der Le-Pen-Partei anheuern könnte.
Die Macron-Seite machte ein Zugeständnis nach dem anderen, so dass am Ende ein Gesetz verabschiedet wurde, das aus der Feder des «Rassemblement National» von Marine Le Pen hätte stammen können.
Es enthält eine deutliche Verschärfung beim Zugang zu Sozialhilfen für Ausländer auf der einen und auf der anderen Seite den Wegfall der Regularisierung für Menschen ohne gültige Papiere, die in Berufssparten tätig sind, in denen Arbeitskräftemangel herrscht.
«Das Ganze funktionierte wie eine Nahrungskette», umschrieb es dieser Tage ein sozialistischer Abgeordneter: Le Pen und ihr «Rassemblement National» haben die konservativen «Les Republicains» gefüttert und «Les Républicains» den Präsidenten und dessen Partei «Renaissance».
Die Massnahmen
Am Ende sieht das neue Gesetz nun Folgendes vor: Das in Frankreich seit Urzeiten verbriefte «ius soli» soll in Frage gestellt, die Familienzusammenführung erschwert werden, Grundkenntnisse in Französisch sollen verlangt werden, irregulärer Aufenthalt im Land von nun an als Straftat geahndet werden, nicht-europäische Studenten müssen bei Studienbeginn eine Garantie hinterlegen, vor allem aber: Bestimmte Sozialleistungen, besonders Familienbeihilfen und Wohnungsgeld, soll es für Ausländer, die arbeiten und Beiträge zahlen, erst nach 2½ Jahren Aufenthalt geben und erst nach fünf Jahren für die anderen.
Auch wenn Premierministerin und Präsident dies gestern heuchlerisch und heftig bestritten haben: Letztere Massnahme ist ganz eindeutig und direkt inspiriert von einer Forderung, mit der schon Le-Pen-Vater und jetzt Le-Pen-Tochter seit Jahrzehnten durchs Land ziehen, und sie heisst: «Nationale Präferenz». Auch wenn dieser Punkt gegen eine ganze Reihe von Grundfreiheiten und universellen Gleichheitsprinzipien verstösst, hat er in der Pariser Nationalversammlung eine Mehrheit gefunden und dies just 75 Jahre nachdem im Pariser Palais Chaillot einst die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» feierlich unterzeichnet worden war.
Marine Le Pen jedenfalls frohlockte und nannte das Abstimmungsergebnis einen «ideologischen Sieg».
Was soll oder kann man ihr entgegenhalten?
Nach der Abstimmung verlegten sich Premierministerin und Präsident dann gestern auch noch auf Lügen, nach dem Motto: Man muss etwas nur oft genug wiederholen, dann glaubt man einem das schon.
Das umstrittene Gesetz wurde mit drei Vierteln der Stimmen der Macronpartei, mit denen der Konservativen und mit den 88 Stimmen des «Rassemblement National» angenommen.
Elisabeth Borne, Emmanuel Macron und weitere Minister betonten den ganzen Mittwoch über, der Gesetzestext wäre auch ohne die Stimmen der Rechtsextremen angenommen worden. Mit anderen Worten: Wir haben uns nicht allzu schmutzig gemacht. Das aber nennt man Schönreden. Hätte die Le-Pen-Fraktion geschlossen gegen das Gesetz gestimmt, hätten sich Präsident und Regierung die nächste Ohrfeige eingehandelt und wieder zu ihren Hausaufgaben zurückkehren müssen.
Verfassungsgericht
Wäre es nicht so traurig, würde man sagen, es ist ein Witz.
Denn dieses Gesetz, das die Regierung unter Präsident Macron jetzt in einer Art Panikstimmung durchs Parlament gebracht, hat, wird in mehreren Punkten keinen Bestand haben, weil diese nicht verfassungskonform sind
Selbst Premierministerin Borne hat das am Mittwoch morgen ganz offenherzig eingeräumt und der Staatspräsident selbst wird das Verfassungsgericht anrufen, wie er am Mittwochabend im Fernsehen betonte.
Wozu dann das Ganze? Um sagen zu können, seht her, wir hätten ja gewollt, aber die Verfassungsrichter hindern uns daran? Weil man bei Macron und in der Regierung vorgibt und dies auch gebetsmühlenhaft wiederholt hat, dass die Franzosen dieses Gesetz erwarten und man gefälligst ihren Wünschen nachzukommen habe?
Was für ein vages Kriterium! Ginge es nach diesem Prinzip, hätte andersherum Macron seine Rentenreform nie und nimmer durchgebracht. Bis zum Ende waren drei Viertel der Franzosen dagegen und erwarteten von ihm vor allem gar keine Reform.
Folgen
Dieses Gesetz wird Spuren hinterlassen.
Erstens haben ein Viertel, also rund 60 Abgeordnete der Präsidentenpartei, nicht für dieses Gesetz gestimmt – viele unter ihnen hatten sich dann doch daran erinnert, dass sie einst bei der sozialistischen Partei waren und am Ende doch nicht bereit sein können, sämtliche Kröten zu schlucken. Ja der Gesundheitsminister, der ebenfalls aus dem eher linken Lager kommt, hat sogar kompromisslos hingeschmissen und ist zurückgetreten. Fünf andere Kabinetsmitglieder hatten nur damit gedroht. Wie die relative Parlamentsmehrheit, über die Macron verfügt, unter diesen Bedingungen noch dreieinhalb Jahre durchhalten will, steht in den Sternen.
Zweitens haben die konservativen Abgeordneten von «Les Républicains» rund um diese Gesetzesdebatte ein Gesicht gezeigt, welches sie kaum noch von ihren Kollegen des «Rassemblement National» unterscheidet. Nach dieser Episode rund um das Immigrationsgesetz darf man den Eindruck haben, das rechtsextreme « Rassemblement National» wird bald auch ein zweites, seit einem Jahrzehnt formuliertes Ziel erreicht haben, nämlich die klassische konservative Partei «Les Républicains» zu zerstören und ihre Reste zu schlucken.
Sämtliche Gewerkschaften, alle Hilfsorganisationen, darunter solche, die schon während der deutschen Besatzung jüdische Kinder gerettet hatten, Verantwortliche im Gesundheitswesen oder die Direktoren der grössten französischen Universitäten, die von der Regierung eingesetzte «Verteidigerin der Grundrechte», sie alle haben in schärfsten Tönen gegen den Gesetzesvorschlag protestiert, doch ohne Erfolg. Die politische Schwäche der französischen Linken schreit weiter zum Himmel und daran dürfte sich auch bei den kommenden Europawahlen in sechs Monaten nichts ändern, im Gegenteil.
Eine grosse, jährliche Meinungsumfrage vom Wochenende (11’000 Befragte) sieht die Le-Pen-Partei bei 28 Prozent (+4) der Stimmen, 8 Prozent vor der Macron-Liste. Nimmt man zwei weitere rechtsextreme Formationen hinzu (Zemour und Dupont-Aignan) landet man sogar bei 38 Prozent! Dies ist der Wind, der zur Zeit durch Frankreich weht und niemand scheint ihn aufhalten zu können. Schon gar nicht Emmanuel Macron.
Geringschätzung der Wähler
Als Emmanuel Macron im zweiten Wahlgang 2017 mit 67 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt worden war, versprach er angesichts der 33 Prozent Stimmen von Le Pen, er werde alles tun, damit in fünf Jahren niemand mehr einen Grund habe, für das «Rassemblement National» von Marine Le Pen zu stimmen.
Das Resultat: Fünf Jahre später erzielte Le Pen nicht 33 sondern fast 42 Prozent der Stimmen und brachte, was fast noch mehr schockierte, bei den anschliessenden Parlamentswahlen trotz Mehrheitswahlrecht 88 Abgeordnete in die Nationalversammlung.
Der wiedergewählte Präsident sprach damals nach der Stichwahl mit Blick auf seine Wähler aus dem linken Spektrum den Satz: «Ich weiss, wem ich diesen Sieg schulde. Diese Stimmen sind für mich eine Verpflichtung.»
Auch wieder: Parole, Parole … 20 Monate später verteidigt der Präsident nun ein Ausländergesetz, das nicht nur die Zustimmung des «Rassemblement National» findet, sondern von ihm gar als ideologischer Sieg gefeiert werden kann.
«Zwei Mal», so die Tageszeitung «Libération» am Mittwoch, «wurde Macron gewählt Dank der Franzosen, die nicht wollten, dass die Extreme Rechte die Macht übernimmt. Und jetzt akzeptieren Macrons Abgeordnete unter den wohlwollenden Blicken der Abgeordneten des ‘Rassemblement National’ geradezu unfassbare Massnahmen gegen Einwanderer, die regulär hier im Land sind. Dies ist nichts weniger als politischer Verrat und ein moralischer Schiffbruch.»
Und im Leitartikel von «Le Monde» – wahrlich kein linksextremes Organ – hiess es am Mittwochmittag nach der denkwürdigen Parlamentsabstimmung:
«In all den 40 Jahren, da sich die französische Politik jetzt dem Thema Immigration widmet, hat sich eine Regierung nur ganz selten mit den Kräften korrumpiert, welche ihr Fett damit machen, dass sie die Ausländer als Sündenböcke in den Vordergrund rücken.
Niemals hat eine Regierung akzeptiert, dass ein Gesetzesvorschlag, den sie selbst eingebracht hatte, um sowohl die Linke als auch die Rechte für sich zu gewinnen, in einem Katalog von Gesetzen endete, der einem Flugblatt des rechtsextremen ‘Rassemblement National’ würdig ist. Niemals war eine Regierung – und mit ihr das Land – derart abhängig vom Wohlwollen der Le Pen Partei ‘Rassemblement National’.»