Christian Haller schreibt eine Novelle, Tobias Hürter erzählt von den glänzenden und den dunklen Jahren der Physik, Ernst Peter Fischer folgt dem Pfad der Geschichte, und zuletzt gerät der aussergewöhnliche Carlo Rovelli ins alte Indien: Literarische und populärwissenschaftliche Bücher präsentieren die erstaunlichen Erkenntnisse der modernen Physik – gewichtige Rätsel inklusive. An diesem Sonntag wird der Schweizer Buchpreis vergeben.
Unter den fünf dafür nominierten Werken findet sich auch die Novelle «Sich lichtende Nebel» des Aargauer Schriftstellers Christian Haller, die von einer Schlüsselszene der modernen Physik handelt: Geplagt von seiner Pollenallergie, reist der 24-jährige Physiker Werner Heisenberg im Sommer 1925 auf die Insel Helgoland, um nachzudenken über das Atom. Das Resultat, die sogenannte Unschärferelation, wirft einige tief verwurzelte Vorstellungen über den Bau der Atome über den Haufen. Mehr noch: Sie lässt am Wesen unserer Erkenntnis und am Bild der Wirklichkeit zweifeln.
Haller nun nähert sich Heisenbergs abstrakten Erkenntnissen über das naheliegend Konkrete, indem er zwei Geschichten parallel erzählt. Die eine handelt von Heisenberg, der gerade am Kopenhagener Physik-Institut zu Gast ist, die andere lässt in Dänemarks Hauptstadt zwei alte Männer in einen Streit geraten. In einer Art Tagtraum hat der eine von ihnen Glutfunken gesehen, aus denen die Gegenstände bestehen; diese Glutfunken waren keine festen Körper oder Kügelchen, sie waren, sagt er, «bewegte Zustände von Energie, von unglaublicher, leuchtender Schönheit». Es ist eine beunruhigende Erfahrung, wie sie auch Heisenberg macht, der sich vor allem an den Diskrepanzen zwischen mathematisch errechneten Resultaten und den realen Messungen aufreibt.
Ein Beamter des Berner Patentamts verkündet Revolutionäres
Materie, umgewandelt in Glutfunken, das heisst in Energie: Ein Grundgedanke der modernen Physik tritt hier ins Licht. Viele Köpfe wirken an ihr mit, und wer nun von der literarischen auf die wissenschaftshistorische Seite wechseln will, der kann in Tobias Hürters erzähltem Panorama gut fündig werden. «Das Zeitalter der Unschärfe» setzt 1900 ein, als sich in Berlin Max Planck einen Reim zu machen versucht auf Messungen, die allen gängigen Formeln widersprechen. Drei Jahre später entdeckt Marie Curie in Paris eine rätselhafte Strahlung, die sie «radioactif» nennt, und noch einmal zwei Jahre darauf präsentiert Albert Einstein, Angestellter des Berner Patentamts, jene «Spezielle Relativitätstheorie», die das Verhältnis von Raum und Zeit neu denkt. Was hält unsere Welt im Innersten zusammen, das ist die Frage, die sich stellt, sobald Werner Heisenberg die Bühne betritt. Und: Was bedeutet das für unser Universum? Doch was lange als eine grosse Erfolgsgeschichte erscheint, das hat auch eine sehr dunkle Seite. Dass Materie sich in Energie umwandeln lässt, öffnet das Tor zur Atombombe, mit deren erstem Einsatz Hürter das anschaulich geschriebene, in kurze, porträthafte Kapitel gegliederte Buch ausklingen lässt.
Was Heisenberg mit «Unbestimmtheit» meinte
Noch ein Dritter zählt zu den grossen Pionieren der neuen Physik: der Däne Niels Bohr, ein grosser Theoretiker, bei dem Heisenberg in «Sich lichtende Nebel» zu Gast ist. Um Bohr, Einstein und Heisenberg dreht sich deshalb auch «Die Stunde der Physiker» des Wissenschaftshistorikers Ernst Peter Fischer. Er erklärt, dass Atome und ihre Teile «weniger ein Ensemble aus festen realen Dingen bildet und mehr eine Sphäre aus dynamischen Möglichkeiten». In dieser Sphäre der von Heisenberg so genannten Quantenmechanik bleibt manches sehr merkwürdig – etwa die Tatsache, dass auf atomarer Ebene nicht klare Kausalitäten die Ereignisse steuern, sondern Wahrscheinlichkeiten regieren.
Einstein hat an solchen Theorien grosse Zweifel gehabt, allerdings hat er schon 1905 etwas davon bemerkt, als er realisierte, dass sich Licht als Welle und Teilchen zeigte und er also nicht mehr sagen oder wissen konnte, was es wirklich ist. Ernst Peter Fischer, der die Zusammenhänge gut erklären kann, spricht bei Heisenberg übrigens nicht von «Unschärfe», sondern lieber von «Unbestimmtheit». Weil der junge kreative Physiker nämlich zur – sehr viel weiter reichenden – Einsicht gelangt sei, dass ein (den Atomkern umkreisendes) Elektron gar keine festliegenden Eigenschaften besitze, solange sie niemand durch einen Eingriff bestimmt. «Mit der Quantenmechanik», so Fischer, «gibt die Physik den hehren Anspruch auf, die Natur zu beschreiben.»
Dunkle Materie, Dunkle Energie
Das hat tiefgreifende Folgen, die erst heute so richtig sichtbar werden. Zunächst aber öffnen Einstein und Heisenberg das Tor zu Aufsehen erregenden Erkenntnissen über das Universum auf der einen, das Wesen der Materie auf der anderen Seite. Mit Ersterem befasst sich der amerikanische Physiker Tony Rothmann in einem gut verständlichen Buch, in dem er auch erklärt, warum die allermeisten Physiker an ein sich ausdehnendes Universum glauben, das seinen Anfang vor rund 14 Milliarden Jahren in einer sogenannten «Singularität» genommen hat – einem Punkt von unendlicher Dichte und Temperatur, salopp «Urknall» genannt. Nicht nur diese Singularität selbst, auch andere Beobachtungen werfen allerdings Fragen auf. Denn Messungen legen nahe, dass es im Universum wesentlich mehr Materie gibt, als wir erkennen können, und wesentlich mehr Energie. Was diese «Dunkle Materie» und die «Dunkle Energie» sind, bleibt rätselhaft. Und man kann sich fragen, ob die Physik da nicht einer Fata Morgana hinterherjagt.
Doch der Ehrgeiz der heutigen Physiker ist mit der Beantwortung einiger naheliegender Fragen noch keineswegs befriedigt. Wer sich auf intellektuelle Höhenflüge einlassen mag, dem sei Michio Kakus «Die Gottesformel» ans Herz gelegt. Kaku ist einer der Väter der Stringtheorie, die es sich in den Kopf gesetzt hat, die eine Formel zu finden, aus der alle andern abgeleitet werden können. Der aussichtsreichste – und seiner Meinung nach einzige – Kandidat für diese Formel ist, so Kaku in seinem populärwissenschaftlichen Buch, die Stringtheorie: «Sie besagt, dass das Universum nicht aus punktförmigen Teilchen, sondern aus winzigen, schwingenden Saiten (Strings) besteht, wobei jeder Ton einem subatomaren Teilchen entspricht.»
«Wir sind nur Bilder von Bildern»
Wer sich jetzt, vielleicht intellektuell ein wenig strapaziert von so viel erstaunlicher und schwer erklärbarer Physik, einen Überblick verschaffen will, der mehr ist als eine Zusammenfassung, ist bei Carlo Rovelli an der richtigen Adresse. Wie immer, muss man gleich beifügen. Denn der italienische Quantenphysiker hat schon eine ganze Reihe von Büchern vorgelegt, in denen er gerne die Grenzen seines Fachs überschreitet. Das tut er auch in «Helgoland» auf höchst anregende Weise, indem er aus der Physik schon bald abtaucht in die Philosophie. So vermerkt Rovelli nur am Rand, dass erst die Quantentheorie die Grundlagen der Chemie aufgeklärt habe, ebenso die Funktionsweise der Atome, der Festkörper, der Plasmen, die Farbe des Himmels und vieles mehr. Dass sie also «das schlagende Herz der heutigen Wissenschaft» sei.
Weit wichtiger aber ist ihm, dass mit der Quantenphysik eine Realität erscheine, «die in erster Linie aus Beziehungen besteht». Und dass er beim Nachdenken über diese verborgene Realität auf den indischen Philosophen Nāgārjuna gestossen ist, der im 2.Jahrhundert gelebt hat. Die Kernthese seines Werks laute schlicht, «dass es keine an sich seienden, von anderem unabhängig existierende Dinge gibt. Mich als Menschen lehrt Nāgārjuna Seelenruhe, Leichtigkeit und ein Augenmerk für die Schönheit der Welt. Wir sind nur Bilder von Bildern».
*Besprochene Bücher:
- Christian Haller: Sich lichtende Nebel. Luchterhand-Verlag, München 2023, 123 Seiten
- Tobias Hürter: Das Zeitalter der Unschärfe. Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895-1945. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 398 Seiten
- Ernst Peter Fischer: Die Stunde der Physiker. Einstein, Bohr und das Innerste der Welt. Verlag C. H. Beck, München 2022, 280 Seiten
- Tony Rothmann: Ein kleines Buch über den Ursprung des Universums. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2023, 205 Seiten
- Michio Kaku: Die Gottesformel. Die Suche nach der Theorie von Allem. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2021, 237 Seiten
- Carlo Rovelli: Helgoland. Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2021, 207 Seiten