Lesen Sie den 1. Teil: Dieulefit - die Kleinstadt, die Juden rettete
Einen Kilometer vom Stadtkern Dieulefits entfernt, in einem kleinen Seitental am Fuß der Berge Le Roc und Montmirail, liegt das Internat Beauvallon, eine Ansammlung von zehn Gebäuden, die über mehrere Hektar verstreut sind. Dieser etwas abgelegene Ort, der für ein Refugium wie geschaffen scheint, hat bei der Rettung der Verfolgten in Dieulefit während der nationalsozialistischen Besatzung Frankreichs eine zentrale Rolle gespielt.
Entlang der Zufahrt ist heute ein Lavendelfeld gepflanzt und mächtige Esskastanienbäume beherrschen den Eingang zum leicht ansteigenden Gelände. Das Haupthaus des Internats im oberen Teil, knapp vor den steil aufsteigenden Bergen, ähnelt einem Schweizer Chalet. Daneben sind in kleineren Gebäuden die Bibliothek, eine Schreiner- und eine Töpferwerkstatt untergebracht, und in einem geschützten Winkel befindet sich ein kleines Freibad. In der Mitte des Hauptplatzes ragen drei grosse Zedern in den Himmel, um deren Wurzeln ein Herz aus grossen Steinen angelegt ist. Früher musste jeder Neuankömmling beim Eintritt in die Schule dieses Herz ein Mal umrunden.
Problemkinder
Das Internat Beauvallon war von Anfang an keine gewöhnliche, sondern eine andere, eine so genannte 'Neue Schule' – Montessori, Summerhill und die Odenwaldschule dienten als Vorbilder. Beauvallon ist 1929 von der Tochter einer weiteren großen protestantischen Familie aus Dieulefit gegründet worden: Marguerite Soubeyran. Die charakterstarke junge Frau, die meist mit nackten Füssen in Sandalen und einer Gauloise im Mundwinkel zu sehen war, war nach dem ersten Weltkrieg in Paris zunächst Krankenschwester geworden. Knapp zehn Jahre später, vor der Eröffnung ihres Internats, hatte sie sich am Erziehungswissenschaftlichen Institut Jean-Jacques Rousseau in Genf ausbilden lassen. Ein Institut, das damals unter der Leitung von Jean Piaget eine der Hochburgen der Reformpädagogik in Europa war.
Das Internat nimmt heute noch, wie in seinen Anfangsjahren, so genannte Problemkinder auf, und so manche der sehr wenigen Regeln, die Marguerite Soubeyran festgelegt hatte, gelten noch heute. Etwa, dass die Kinder hier in der freien Natur kommen und gehen können, wie sie wollen, allerdings nur so weit weg, dass sie die Glocke noch hören können, die an der Aussenfassade des Haupthauses hängt und heute wie damals zum Essen, zur Arbeit und zu den Versammlungen ruft.
Ménage à trois
Diejenige, die einem das erzählt, heisst Anne Lachens. Sie ist Mitte 50, schlank, dynamisch und sehr direkt. Die erklärte Musikliebhaberin führt den Vorsitz im Trägerverein des Internats von Beauvallon, und sie ist die Enkelin von Marguerite Soubeyran und Catherine Krafft, der anderen Mitbegründerin der Schule von Beauvallon. Marguerite Soubeyran hatte die Schweizerin während ihres Studiums in Genf kennengelernt und sie überzeugt, mit ihr nach Dieulefit zu kommen. Anne Lachens nennt diese beiden Frauen “meine Großmütter”. Diese Großmütter waren damals ein lesbisches Paar, haben in den 30-er Jahren selbst nicht weniger als vier Kinder adoptiert, darunter Anne Lachens' Mutter und lebten später mit der dritten der so genannten „Guten Feen von Beauvallon“, Simone Monnier, eine Ménage à trois.
Auf die Bitte hin, ihre Grossmutter Marguerite Soubeyran zu charakterisieren, sagt Anne Lachens: „Sie war sehr impulsiv und enthusiastisch. Sie hatte stets irgendwelche neuen Ideen und eine enorme Ausstrahlung. Sie war wie ein Magnet, zog die Menschen regelrecht an. Diese drei Frauen", fährt sie fort, „haben hier in der Praxis wirklich das gelebt, was sie empfunden, gesagt und woran sie geglaubt haben, gegen alle Widerstände, ja um den Preis ihres Lebens, wenn es nötig gewesen wäre.“
Bindeglied zum bewaffneten Widerstand
Marguerite Soubeyran, die in Beauvallon von Kindern und Erwachsenen nur „Tante Marguerite“ oder „Magui“ genannt wurde, war mit dem Status der Tochter einer bedeutenden Familie am Ort die treibende Kraft des zivilen Widerstands in Dieulefit und ab 1943 auch ein wichtiges Bindeglied zum bewaffneten Widerstand in der Gegend.
In den Kriegsjahren waren allein ihre Schule und die nahe gelegene “Pension Beauvallon” Zufluchtsort für hunderte Verfolgte. „Marguerite Soubeyran ist wie die kapitolinische Wölfin, nur dass sich nicht zwei Knaben, sondern das ganze Internat unter ihr befindet“, schrieb damals einer der Flüchtlinge in das Gästebuch des Internats. „Alle, die hierher geflohen waren, hatten nicht den Eindruck, dass man sie nur einfach versteckte, sondern fühlten sich in Beauvallon wirklich aufgenommen“, meint Marguerite Soubeyrans Enkeltochter, Anne Lachens. In Beauvallon habe damals diese Art von Großzügigkeit geherrscht, die keinerlei Gegenleistung erwartete.
“Hier sind Sie in Sicherheit“
Die heute 85-jährige Pascaline Cahen kann dies bestätigen. Sie war 13, als sie mit ihrer Familie nach der Besetzung der südlichen Hälfte Frankreichs durch Hitlers Truppen und der zunehmenden Razzien gegen die jüdische Bevölkerung Ende 1942 aus Toulon am Mittelmeer nach Dieulefit geflohen war und damals, den Rat einer Freundin der Familie befolgend, zunächst in der Schule von Beauvallon anklopfte. Dort wurde sie von Pastor Monnier empfangen, dem Vater von Simone Monnier, einer der drei so genannten „Guten Feen von Beauvallon“. „Er ähnelte“, so Pascaline Cahen, „ein wenig meinem eigenen Großvater, war ein sehr warmherziger Mann und hat damals zu uns gesagt: 'Sie werden jetzt bei uns bleiben. Hier sind Sie in Sicherheit'. Das sind Worte, die wir nie vergessen haben. Und diese Worte haben uns das Leben gerettet. In Beauvallon herrschte so etwas wie menschliche Wärme und Vertrauen. Ich bin dort plötzlich wieder Menschen begegnet, die mir geholfen, die mich aufgewertet und mich ermutigt haben.“
Das Internat beherbergte in jenen Jahren rund 100 Kinder, die doppelte Anzahl wie vor dem Krieg. Mehr als vier Jahre lang haben es die guten Feen von Beauvallon geschafft, diese Kinder, von denen viele völlig mittellos waren, zu beschützen, zu ernähren, zu kleiden und einen einigermaßen normalen Schulbetrieb aufrecht zu erhalten. Pascaline Cahen, die damals unter dem Namen Colomb eingeschrieben war, erinnert sich: „Wir hatten jeden Morgen diese berühmte Versammlung. Wir saßen da in einem großen Raum im Kreis zusammen und Tante Marguerite las uns entweder etwas vor - Charles Dickens hab‘ ich in Erinnerung -, manchmal zeigte sie uns Reproduktionen von Gemälden oder aber sie liess uns schöne Musik hören, meistens war es Bach. Am Ende wurde dann eine Minute lang geschwiegen. Das war etwas ganz Außerordentliches, jeden Morgen zu Tagesbeginn, diese Versammlung.“
Le silence de la mer
Pascaline Cahen bekommt heute noch glänzende Augen, wenn sie an einen ganz besonderen Abend im Jahr 1943 denkt. „Man hat uns damals doch tatsächlich „Das Schweigen des Meeres“ vorgelesen. Unglaublich. Eines Abends hatte uns Tante Marguerite gesagt: 'Ihr aus der oberen Klasse, ihr kommt nach dem Abendessen zu uns, man wird euch etwas vorlesen'. Es waren auch Freunde aus der Pension Beauvallon, die drei hundert Meter weiter unten im Tal lag, gekommen und alle Lehrer.
Man saß in einem großen Kreis zusammen, wir Kinder an einem Tisch neben der Französischlehrerin, Mademoiselle Gille. Sie hat diesen Text dann an einem Stück gelesen. Es herrschte ein Schweigen im Raum, das etwas Zauberhaftes hatte. Erst hinterher hat sie Namen und Titel genannt: VERCORS, LE SILENCE DE LA MER. Ich war die einzige in unserer kleinen Gruppe von Kindern, die durch diesen Text richtig aufgewühlt war. Es war schon spät am Abend, als ich mir dann gesagt habe, der Mann, der das geschrieben hat, der denkt an uns! Keine Ahnung, warum mir dieser Satz in diesem Moment durch den Kopf gegangen ist.“
“Das allerliebste aller Asyle“
Jean Brulers im Untergrund erschienenen, von Jérôme Lindon und den Editions Minuit veröffentlichten Text hatte die kommunistische Schriftstellerin und Journalistin Andrée Viollis nach Dieulefit gebracht. Sie wohnte damals in der Pension Beauvallon, über die sie später schreiben sollte: „Die Pension liegt mitten in der Landschaft, ein altes, niedriges und langgestrecktes Bauernhaus, in wilden Wein gehüllt, mit seinem sprudelnden kleinen Bach und seinen Pappeln, die im Frühling und im Herbst wie grosse goldene Kerzen leuchten. Für uns alle, für uns Unbehauste, war sie das geheimste, das allerliebste aller Asyle. Jeder Gast hier trug seine Geschichte, seine falschen Papiere, seine Tragödie mit sich. Hinter diesen Mauern kannten die meisten überwältigende Angst und grossen Schmerz.“
In der Pension wohnte unter anderen auch der Philosoph Emmanuel Mounier, der Gründer der bereits verbotenen Zeitschrift ESPRIT, später kamen etwa Clara Malraux und ihre Tochter Florence hinzu, kurzzeitig war auch der Schriftsteller Jean Giono präsent. Und einige hundert Meter weiter, im Internat von Beauvallon selbst, lebte Henri Pierre Roché, der dort ein wenig Turnunterricht und Englischstunden gab, den Kindern das Schachspielen beibrachte und versuchte, ihnen auch den Boxsport nahe zu bringen.
Jules et Jim
Der 60-jährige Kunstsammler und Schriftsteller, mit dem Auftreten eines Dandys, kannte Picasso und zählte Marcel Duchamp zu seinen Freunden. Roché erfuhr hier in Dieulefit Anfang 1941 vom Tod seines alten Gefährten, des deutschen Schriftstellers Franz Hessel, der in Sanary am Mittelmeer gestorben war.
Diese Nachricht war der Auslöser dafür, dass Roché in seinem Dachzimmer des Internats von Beauvallon mit der Niederschrift des Romans “Jules et Jim” begann, dessen Dreiecks-Geschichte erst in den 60-er Jahren durch François Truffaults Verfilmung weltbekannt wurde. Ein Verein mit dem Namen „Les amis de Jules et Jim“ hält heute noch jeden Sommer im Internat von Beauvallon ein dreitägiges Kolloquium zu Henri Pierre Roché ab. Für diesen Sommer hatte Stéphane Hessel schon seit langem seine Teilnahme zugesagt - sein Tod im Frühjahr hat anders entschieden.
Henri Pierre Roché
Violette Bissat war bis zur ihrer Pensionierung Professorin für Sinologie am Institut für orientalische Sprachen in Paris. Als Jugendliche hatte sie von 1938 bis 1945 in Beauvallon gelebt und war am Ende für die Kinder des Internats eine Art grosse Schwester. Sie erinnert sich noch gut an Henri Pierre Roché.
„Für uns war er besonders interessant, weil er uns wunderbare Geschichten erzählte. Wir Schüler hatten ihn einmal zum Essen eingeladen und er erzählte uns von seinen Reisen quer durch Europa, zum Beispiel nach Rom, wo er angeblich einen russischen Prinzen getroffen hatte. Das war alles sehr malerisch und wir mochten ihn deswegen sehr. Er wohnte hier in einem Zimmer im so genannten 'Kleinen Haus'. Von Zeit zu Zeit mussten wir durch dieses Zimmer gehen, denn es war neben dem Speicher, wo die Kostüme für unsere Theateraufführungen lagerten. Er hatte einen großen Tisch vor dem Fenster, auf dem lagen natürlich viele Papiere, aber vor allem standen dort auch rund 15 Pfeifen, die uns ganz besonders faszinierten.“
Miniaturaquarelle für eine Million Dollar
Roché, der Kunstsachverständige, gewann schnell auch das Vertrauen von zwei Künstlern, die in unmittelbarer Nähe von Beauvallon hausten: der Bildhauer Etienne Martin, dem Roché assistierte, als er in einem der nahen Sandsteinbrüche eine seitdem wieder verschwundene, sechs Meter hohe „Sandmadonna“ direkt in einen der Abhänge hinein meiselte. Der andere war WOLS, an den sich heute fast jeder alte Mensch in Dieulefit noch erinnert, als trinkwütigen Kauz, den man regelmässig im Strassengraben auflesen musste. "Seine erste Sorge“, schrieb Henri Pierre Roché in sein Tagebuch, „ist, die Schnapsflasche zu füllen. Wenn sie voll ist, fühlt er sich ruhig. Er trinkt von Zeit zu Zeit einen ganz kleinen Schluck, regelmäßig, den ganzen Tag. Er feuchtet sich an wie der Docht im Feuerzeug."
Dies hinderte WOLS nicht daran, in jener Zeit faszinierende Miniaturaquarelle zu malen, nicht grösser als ein Handteller, die seine Frau den Bürgern von Dieulefit gegen Alkohol und ein wenig Essen verkaufte. Heute hängen diese Werke des Künstlers, der nach dem Krieg in Paris von Jean-Paul Sartre auch finanziell unterstützt wurde bevor er nur 38-jährig verstarb, unter anderem in Chicago und manche erzielten bei Auktionen jüngst Preise von über einer Million Dollar.
In der Töpferei versteckt
Im Internat von Beauvallon war Henri Pierre Roché zu jener Zeit nicht der einzige, etwas merkwürdige Gelegenheitslehrer, den die Schule aus der grossen Flüchtlingsgemeinde im Ort rekrutiert hatte. „In Dieulefit“, so Violette Bissat, „lebte auch die Familie Springer. Der Vater, die Mutter und die Zwillinge, Henri und Georges. Monsieur Springer, der von Beruf Historiker war, gab uns Geschichtsunterricht, den er immer mit großer Sorgfalt vorbereitete. Er hat wirkliche großartige Geschichtsstunden gehalten und war immer sehr präzise.“
Die beiden Söhne des aus Heidelberg emigrierten Professors für Wirtschaftsgeschichte, Max Springer, waren in Beauvallon Mitschüler von Violette Bissat, bevor sich beide 1944 dann den Widerstandsgruppen in der Gegend anschlossen. Der Lebenslauf der Springer-Zwillinge ist in den Augen des Historikers Bernard Delpal ein Paradebeispiel für die außergewöhnlich starken Bindungen, die in jenen Jahren zwischen Dieulefit und den Flüchtlingen aus Frankreich und ganz Europa entstanden sind. Delpal weiss von einem Fall, wo der Gerettete später bis an sein Lebensende seinen Rettern in Dieulefit eine monatliche Überweisung zukommen liess oder von einem älteren Herren, der jeden Sommer in einer der still gelegten Töpfereien gesehen wurde. Erst vor wenigen Jahren hat ihn jemand angesprochen und dabei erfahren, dass er als Kind in eben dieser Töpferei versteckt war und mit den Nachfahren seiner Retter bis heute Kontakt hat.
Kampf gegen die deutsche Besatzung
Und Bernard Delpal nennt noch andere Beispiele. „Der Werdegang einiger junger Juden aus Deutschland, die damals hier lebten, ist schon aussergewöhnlich. Sie hatten einen chaotischen Weg hinter sich, waren nach ihrer Ankunft in Frankreich erst in den Lagern im Süden eingesperrt, viele in Les Milles, konnten dann herausgeholt werden und haben es geschafft, hierher nach Dieulefit zu flüchten. Sie wurden dann hier eingeschult, lernten Französisch und machten 1943 oder 1944 sogar ihr Abitur. Unmittelbar danach engagierten sie sich in bewaffneten Widerstandsgruppen, um gegen die deutsche Besatzung zu kämpfen. Sie haben als Jugendliche in Dieulefit ihre geistige Ausbildung in der Schule von Beauvallon und dann im Gymnasium La Roseraie genossen und dort sozusagen ihre geistigen Waffen mit auf den Weg bekommen.
Dort hat man ihnen z.B. die Autoren der Antike zu lesen gegeben, mit Bezug zur damaligen aktuellen Situation. Man könnte sagen: Die, die da gesät haben, haben geerntet. Denn diese jungen Leute haben sich alle engagiert und gehörten am Ende zu den FFI, den Streitkräften des französischen Widerstands. Die Springer-Zwillinge sind so ein Beispiel. Sie haben dann nach dem Krieg 1946 und 1947 sogar die französische Staatsbürgerschaft angenommen und ihr weiteres berufliches und familiäres Leben sollte sich in Frankreich abspielen. Henri konvertierte, wurde Jesuit und ließ sich in Südfrankreich nieder. Georges kam nach seinem Studium sogar wieder hierher zurück und wurde einer der beliebtesten Ärzte von Dieulefit. Er hat hier von 1954 bis 1986 gearbeitet und war auch danach noch ehrenamtlich für das Krankenhaus tätig.“
Angst vor einer Rückkehr der Deutschen
Georges Springers hoch betagte Witwe lebt heute noch in einem der schmalen, wenig praktischen, vierstöckigen Häuser aus dem 18. Jahrhundert, die eng aneinander geschmiegt an der schmalen Hauptstrasse stehen. Ihr Mann hatte in den 60-er Jahren alles daran gesetzt, gerade dieses Haus zu erwerben, in dem man ihm und seinen Eltern ab 1939 in den zwei Zimmern im obersten Stockwerk Unterschlupf gewährt hatte. Ein kleiner Platz in Dieulefit heisst heute „Square Georges Springer“.
Georges Springer und sein Zwillingsbruder Henri hatten während ihrer Internatsjahre in Beauvallon, wie auch ihre Mitschülerin, Violette Bissat, in der permanenten Angst gelebt, die deutsche Wehrmacht könnte aus dem 30 Kilometer entfernten Rhônetal doch einmal nach Dieulefit kommen.
Vorbereitung für den Ernstfall
„Es gab durchaus mehrmals Alarm“, erzählt Violette Bissat. „Einmal, als ich gerade in Dieulefit war, bei den Eltern meiner Freundin Pascaline Cahen, die während des Kriegs “Colomb” hießen. Wir hatten gerade zusammen gegessen, da hat jemand an die Tür geklopft und Monsieur Cahen etwas ins Ohr geflüstert. Daraufhin hat er zu uns gesagt: 'Kinder, ihr geht sofort in die Schule nach Beauvallon zurück, aber nicht auf dem normalen Weg, sondern über das Plateau da oben. Auf dem Weg warnt ihr dann noch Frau Gottesmann und sagt ihr, dass ein Angriff droht!' Wir sind auf dem Weg nach Beauvallon dann sogar einigen Widerstandskämpfern mit ihren Gewehren begegnet. Und als wir an der Schule ankamen, war sie völlig leer, alle Kinder waren verschwunden. Tante Marguerite hat zu mir gesagt, du überwachst jetzt die Straße, die zum Internat führt und zu meiner Freundin, Pascaline: ‚Du kommst mit mir, wir gehen Papiere vernichten‘. Nach einer Stunde ist sie zurückgekommen und sagte: 'Heute Nacht schlafen wir besser in der Hütte'.“
Diese Hütte war eines von mehreren Verstecken, die es in der Umgebung der Schule von Beauvallon für den Ernstfall gab. An einigen Stellen hatte man auch Höhlen in die Hänge aus Sandstein gegraben. Alle Kinder des Internats kannten diese Orte für den Fall eines Alarms. Sie bildeten dann Gruppen von nicht mehr als 10 bis 12. Die Älteren kümmerten sich um die Jüngeren und jeder wusste genau, wohin er zu gehen hatte. Sie machten vor allem regelmässig Übungen, aber manchmal gab es auch wirklich Alarm. Anne Lachens Mutter hatte ihr erzählt, dass sie mehrmals mit Marguerite Soubeyran die Nacht in der Hütte des Malers Eisenschitz verbracht hatte, die auch als Fluchtort diente. Es gab darin eine offene Etage, wo die Kinder oben schlafen konnten. Man hatte ihnen erklärt, im Ernstfall durch das Fenster nach draußen zu springen und im Wald zu verschwinden.
Zitadelle des Widerstands
Ab Ende 1943 hatte man im Untergeschoss des Haupthauses im Internat von Beauvallon auch eine provisorische Krankenstation eingerichtet, wo Verwundete gepflegt werden konnten. Denn auf dem Berg, 300 Höhenmeter über dem Internat, existierte ein Widerstandsnest von jungen Männern, die den Zwangsarbeitsdienst in Deutschland verweigert hatten. Sie hatten dort auch einen Sender, und es wurden da oben Waffen per Fallschirm abgeworfen. Auch diese 15 jungen Leute sind von der Schule unten in Beauvallon versorgt worden.
Die bereits zitierte Schriftstellerin und Journalistin Andrée Viollis schrieb damals nicht ohne Pathos: „Für mich hat die Schule von Beauvallon zwei Gesichter, die ich niemals ohne tiefe Emotionen werde beschreiben können. Das eine Gesicht ist das Kinderparadies mit den Schreien, dem Lachen, den Liedern und Tänzen und mit seinen gütigen Feen, die sanft und aufmerksam sind. Das andere Gesicht ist das einer Zitadelle des Widerstands, herb und stark, mit den verfolgten Flüchtlingen, den jungen Männern aus dem Maquis und seinen Verletzten. Keiner dieser Menschen hat hier je an die Tür geklopft, ohne dass sich ihm hilfreiche Hände entgegengestreckt hätten und ohne dass er auf Grosszügigkeit und Herzlichkeit gestossen wäre und auf Menschen, die bereit waren, zuzuhören, zu helfen, Vertrauen herzustellen, sowie Mut und Hoffnung zu geben. Beiden Gesichtern von Beauvallon ist gemein, dass in ihnen das höchste aller Güter, die Freiheit erstrahlt.“
(Fortsetzung am nächsten Montag, 19. August. Teil 3: Die Widerstandsgruppe in den Bergen und das Ehepaar Bauer)
Die Radio fassung dieser vierteiligen Serie „Dieulefit – Refugium in Zeiten der Barbarei“ läuft im DEUTSCHLANDFUNK, Dienstag 27.August 2013, „Das Feature“ - 19.15 Uhr bis 20.00 Uhr.