Die Trias Liberté, égalité, fraternité war immer ein Ideal, nicht eine Realität. Das Ideal, in Europa geboren, stiess auf sachliche Einschränkungen und auf solche räumlicher Natur. Sachlich: weder Freiheit, noch weniger Gleichheit, und am wenigsten Brüderlichkeit wurden je zu vollendeten Tatsachen. Es blieb bei Annäherungen.
Kolonialistische Vorbehalte
Die räumlichen Einschränkungen waren womöglich noch grösser. Zwar galten die Ideale als solche «de l’humanité», also der gesamten Menschheit. Doch zunächst wurde nur versucht, sie in Frankreich auszubreiten, dann über Teile von Europa und Teile der amerikanischen Kontinente. Den Rest der Welt und der Menschheit sah man als «vorläufig» ausgeschlossen. Was notwendig war, um die Herrschaft über die Kolonialvölker und ihre Eingeborenen beizubehalten und zu rechtfertigen. Die Kolonialvölker galten zwar als Gegenstand einer «mission civilisatrice». Doch bis diese erfüllt war, sollten die «Ideale der Menschheit» nicht für die immense Mehrheit dieser Menschheit gelten.
Das änderte sich in der Theorie mit der Entkolonisierung (décolonisation). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Ideal der französischen Revolution zum universalen Menschenrecht deklariert. Zur Kenntnis nahmen dies nicht nur die Europäer und Amerikaner sondern auch und vor allem all jene Völker, die bisher als Kolonialvölker eingestuft worden waren. Es gab gleichzeitig eine Menschenrechtsinflation; als Menschenrechte wurden nun auch ein Recht auf Nahrung, auf Arbeit, auf Erziehung, Gesundheitspflege, Kindern angemessenes Kinderleben, Gleichheit der Geschlechter und einiges mehr proklamiert. Gewiss, stets als anzustrebende Ideale, jedoch als solche angeblich weltweit gültig.
Eine Sache von Oberschichten
Die bisher niedergehaltene Mehrheit der Menschheit lernte, dass diese Rechte auch für sie gälten. Dies erfuhren allerdings nicht sofort alle Individuen unter den bisherigen Kolonialvölkern, sondern zunächst die dort tonabgebenden, «modernisierten» Oberschichten.
Zuerst herrschte in den bis dahin kolonialen grösseren Teilen der Welt die Ansicht vor, die Möglichkeit, den Menschenrechtsvorstellungen nachzuleben und ihre Verwirklichung anzustreben, trete ein, sobald man die Unabhängigkeit des Staates erreiche, in dem man lebte. Das bedeutete zunächst, dass der Rahmen eines eigenen Staates notwendig war. Doch nachdem dieser errichtet worden war und im Verlauf der zwei nächsten Generationen wurde deutlich, dass der eigene Staat nicht notwendigerweise zu mehr Menschenrechten hinführe. Es schien, sie könnten auch weniger werden. Warum?
Die Gründe lagen in äusseren Zwängen politischer, wirtschaftlicher, militärischer Natur; und es gab auch innere Unvollkommenheiten und Mängel.
Während geraumer Zeit sah man in den betroffenen Staaten der «Dritten Welt», wie sie eine zeitlang kollektiv genannt wurden, die äusseren Zwänge als den überwiegenden Grund dafür, dass im eigenen Haus die Menschenrechtsideale noch weniger zur Erfüllung gelangten als in Europa und in Nordamerika. Man suchte und fand Begründungen im Kolonialismus und Neokolonialismus sowie im aggressiven Kapitalismus der «Ersten Welt».
In späteren Phasen jedoch neigten wachsende Teile der Bevölkerungen dazu, auch ihre eigenen Regierungen als Hindernisse auf dem Weg zur Verwirklichung dieser Ideale anzusehen, obwohl diese Regierenden so taten, als ob auch sie den Menschenrechtsidealen nachleben wollten. In Wirklichkeit, so schien es nun, ging es den Machthabern aller Couleurs vielmehr darum, sich selbst und ihren notwendigen Stützen die Vorteile zu verschaffen, die ihnen ermöglichten, im Stil der Ersten Welt und mit den Vorteilen der Menschenrechte, die dort viele der Bürger genossen, ein Leben zu führen, das auf Kosten der grossen Mehrheiten ihrer Untertanen ging. Diese genossen in der Praxis kaum Rechte.
Die Krise des «arabischen Frühlings»
Eine Krise stellte sich ein, nachdem der Kalte Krieg aufgehört hatte, die Aufmerksamkeit der entwickelten und der unterentwickelten Welt in Anspruch zu nehmen. Die «Unterentwickelten» standen nicht mehr vor zwei unterschiedlichen Wegen, die beide beanspruchten, in eine menschenwürdige Zukunft zu führen. Nur einer war noch geblieben, und von diesem wurde zusehends klar, dass er für die «Unterentwickelten» nicht zur Entwicklung führte, das heisst in unserem Zusammenhang zum Fortschritt in Richtung der Menschenrechtsideale, sondern vielmehr zur wachsenden Ausbeutung rasch anwachsender Unterschichten. Diese wurden mehr denn je unter Polizeidruck gehalten, um den fremdorientierten oder teilweise fremdausgerichteten Oberschichten als Ausbeutungsobjekte zu dienen.
Gleichzeitig waren die Menschenreschtsideale – ursprünglich europäischer Herkunft – weit in die Vorstellungswelt dieser Unterschichten vorgedrungen. Das heisst, die Leute der einstigen Dritten Welt begannen sich als berechtigt zu sehen, an diesen Idealen, oder mindestens an einer auf sie zu führenden Entwicklung, teilzuhaben. Dies äusserte sich oft im dringenden Wunsch und Bemühen der Eltern, ihren Kindern eine Schulbildung und womöglich Universitätsbildung zukommen zu lassen, die sie selbst nicht genossen hatten.
Doch die Erfahrungen der alltäglichen Realität wiesen immer deutlicher in die umgekehrte Richtung. Immer weniger Menschenrechte für eine immer mehr verarmende Bevölkerungsmasse, die durch die Gewalt einer zunehmend brutalen Polizei im Gehorsam gegenüber ihren Machthabern gehalten wurde. Die Machthaber ihrerseits täuschten ein Interesse an Menschenrechten vor, um ihre Bevölkerung um so hemmungsloser ausbeuten zu können – möglicherweise sogar mit dem gutem Gewissen, das sie einer ihnen selbst schmeichelnden Selbsttäuschung verdankten. Dies führte schlussendlich, jedenfalls in der vom Islam geprägten Welt, zu Aufstandsversuchen, die beinahe alle fehlschlagen sollten.
Innere Blockierung
Die Fehlschläge rührten letzten Endes daher, dass zwar die Ziele bekannt waren – alle Menschenrechte, womöglich sofort! – aber kein Weg in Angriff genommen wurde, der dorthin hätte führen können.
Warum geschah dies nicht? In erster Linie wohl, weil es nur sehr unbestimmte Vorstellungen der Massnahmen und Entwicklungsprozesse gab, die Not täten, um diesen Weg auch nur anzutreten. Und in zweiter Linie, weil sich Egoismen von vielen Seiten auswirkten, die darauf ausgingen, aus der gegebenen Situation des Zusammenbruches der bisherigen Macht, Eigengewinne zu schlagen (vielleicht war dies sogar der wichtigere Grund). Zu diesen Egoismen gehörten jene der inländischen Mächte wie die Eigeninteressen der Armee und jene der Muslimbrüder in Ägypten, der Geheimdienste in Syrien, des Machtstrebens schiitischer Würdenträger im Irak, der königlichen Familie und ihrer Mitläufer in Bahrain, des abgesetzten Staatschefs Ali Abdullah Saleh und seiner Parteigänger und Verbündeten im Jemen, ferner der Eigennutz von Dutzenden wenn nicht Hunderten von Milizchefs in Libyen.
Äussere Einwirkungen
Gleichzeitig gab es – für die Landeskinder viel sichtbarer als für die Europäer und Amerikaner – die Einwirkungen von aussen. Zum Beispiel «Regime change», humanitär verkleidet, jedoch gewalttätig und nicht ohne eigennützige Nebenabsichten und Hintergedanken. Oder auch, einfacher und weniger sensationell, wirtschaftliche oder politische Eigeninteressen ausländischer Mächte und Grossmächte, die sich umso verheerender auswirken, je weniger die betroffenen Gesellschaften in der Lage sind, ihre eigenen Interessen wirksam gegen sie zu wahren.
Dies ist eine Erscheinung, die ihrerseits oftmals auf Gewinnsucht und Eigennutz führender Privilegierter in den früheren Kolonialgebieten zurückgeht; schlicht gesagt, weil sie sich bestechen lassen.
All dies zeitigte nicht vorausgesehene Folgen, die bis zum Zusammenbruch der betroffenen Staaten gehen konnten und damit in grossen Schritten in ein Verderben hinein. Die Dinge liefen nicht auf die theoretisch angestrebten und verheissenen Menschenrechte zu, sondern in der entgegengesetzten Richtung, was zu tiefgreifenden Menschenunrechten führte. Sogar das Recht auf Leben wurde negiert, als, wie in Syrien, die Regierung ihre eigenen Städte mit allen ihren Bewohnern zu Schutt bombardierte. In Jemen ist es die saudische Nachbarregierung, die gegenwärtig das gleiche mit Hilfe amerikanischer und europäischer Waffen bewirkt. Sie gibt vor, im Namen einer Regierung zu handeln, die sich die jemenitische nennt.
Flucht nach aussen und Flucht zurück
Angesichts solcher Zusammenbrüche von Staaten gab es im islamischen Raum zwei Reaktionen, beides eigentliche Fluchtreaktionen. Die eine war Flucht in eine vermeintlich ewige, in Wirklichkeit neu konstruierte, weil neu verstandene, vermeintlich eigene, angeblich angestammte und den Behauptungen nach unmittelbar von Gott gegebene Scheinreligion, die primär der Machtentfaltung und Machterhaltung ihrer Anführer diente.
Die andere Bewegung war physische Flucht: weg und hinaus aus dem Todesbereich der Bürgerkriege, über die Grenzen und wenn immer möglich weit hinaus über sie in die Länder, die Menschenrechte zu garantieren versprachen – natürlich auch nicht in idealer Weise, jedoch immerhin in praktisch brauchbarer Form.
Das «Kalifat»
Die Flucht in eine imaginäre religiöse Bewegung war Sache von Minderheiten, denen es jedoch in Syrien und im Irak gelang, sich ein eigenes Territorium und darin einen eigenen Staat zu schaffen. Die Gründer und Nutzniesser dieser Flucht ins Imaginäre gaben vor, es gebe ein Gottesgesetz über allen Menschenrechten, das zu befolgen sei und Erfolg verspreche.
Zu bestimmen, wie dieses Gottesgesetz zu interpretieren und anzuwenden sei, beanspruchten die Anführer und ideologischen Wegweiser des Islamismus für sich selbst. Zur Verwirklichung ihrer angeblich göttlichen Ordnung sei Gewalt notwendig und gerechtfertigt, behaupteten sie. Wer sich in ihrer Gewalt befand, wurde gezwungen, sich an ihre Auslegung und ihr Verständnis des angeblichen Gottesgesetzes zu halten. Grausamkeiten aller Art wurden als Instrumente der Machtergreifung und Machterhaltung eingesetzt.
Die taktischen und strategischen Lenker dieser Bewegung waren in vielen Fällen ehemalige Geheimdienstoffiziere des Diktators Saddam Hussein. Sie waren Fachkräfte dessen, was man als «Regieren durch Verbreitung von Furcht» bezeichnen kann. Die Attraktivität ihrer Art von Ordnung war gross für Personen, die den Glauben an die «universellen» Menschenrechte europäischer Herkunft verloren hatten; oder sie hatten ihn nie erworben, weil es in ihrem Lebensbereich und für sie persönlich solche Rechte in konkret spürbaren Auswirkungen nie gegeben hatte. Mass für die Zugkraft des scheinbaren Lösungsansatzes der radikalen Islamisten ist der Umstand, dass wachsende Zahlen von Menschen dazu verführt werden konnten, für diese Art der Ordnung und eines staatsähnlichen Machtgefüges als Sebstmordbomber freiwillig ihr Leben zu opfern.
Die Flucht nach Europa
Die Flucht nach aussen in Richtung von Staaten, in denen es eine Teilverwirklichung der Menschenrechte gibt, wurde zur Sache einer immensen Mehrheit der durch die Implosion ihrer Staaten betroffenen Menschen – jedenfalls dem Wunsch nach. Seiner Verwirklichung standen schwere bürokratische und finanzielle Hindernisse entgegen. Überwinden konnten sie überwiegend Einzelpersonen und ganze Familien, die Geldreserven besassen oder Gelder von Seiten anderer Familienmitglieder zusammentragen konnten.
Die Schlepper nach Europa alleine kosten mindestens Tausend Dollars für eine jede Person. Millionen von Obdachlosen (konkret rund die Hälfte der syrischen Bevölkerung von 25 Millionen) und zur Zeit 1,2 Millionen Iraker, unzählige Hunderttausende von Afghanen (Tendenz steigend), Eriträer, Somalier, künftig gewiss auch Jemeniten, Libyer, Menschen aus den afrikanischen Staaten würden den gleichen Weg betreten, wenn sie es nur vermöchten.
Dies bedeutet, dass der gegenwärtige Strom in der nächsten Zukunft nicht abflauen, sondern weiter anwachsen wird. Unter den Millionen, die zurückbleiben, innerhalb und an den Rändern der implodierenden Staaten, werden die Vorkämpfer des radikalen Islamismus weiteren Zuwachs finden. Sie mobilisieren darüber hinaus auch Anhänger unter jenen Einwanderern, die sich in Europa und in Amerika aufhalten, jedoch den Eindruck bekommen, nicht in genügendem Masse von ihrer Gastgesellschaft auf- und angenommen zu sein.
Wiederaufbau zerfallener Staaten?
Ob und in welcher Art sich die grosse Masse all jener organisieren wird, die den Fluchtweg in die Länder mit relativ weitgehender Verwirklichung der Menschenrechte nicht antreten können, ist vorläufig nicht absehbar. Impoldierte Staaten wiederaufzubauen ist so schwierig, dass es in der bisherigen Menschheitsgeschichte – beinahe immer – nur vorkam, nachdem lange Perioden des Chaos vorgeherrscht hatten und schliesslich neue Staatsformen, das heisst neue Möglichkeiten des Zusammenlebens auf neuen ideologischen Grundlagen, errichtet wurden oder auf evolutivem Wege langsam entstanden.
Anmerken muss man allerdings, dass solche evolutiven Ansätze in der Gegenwart und Zukunft dadurch blockiert oder mindestens erschwert werden dürften, dass gegenwärtig zum ersten Mal weltweit Erschöpfungserscheinungen der natürlichen Grundlagen sichtbar werden, die bisher der Menschheit das Leben auf dem Erdball ermöglicht hatten.