Denn der als Welturaufführung gezeigte Film von Georges Gachot über Beat Richner, Beatocello und Kinderazrt, ist peinlich. Betrieben wird der Personenkult, verstärkt mit dem Druck auf die Tränendrüsen. Sofern der Applaus dem Mediziner galt und seinen Kinderspitälern in Kambodscha, war er selbstverständlich hoch verdient. Aber die Frage stellt sich, was ein die Geldsammlung ankurbelnder Werbefilm, der unkünstlerisch plump mit der Türe ins Haus fällt, an einem internationalen Festival des unabhängigen und gestaltungsstarken Dokumentarfilms zu suchen hat.
Die Falle der Moral
Die im zweiten Jahr von Luciano Barisone geleitete Veranstaltung, die „Visions du Réel“, sieht im Dokumentarfilm eine Kunstform, will nach eigenem Bekunden zum Denken herausfordern, Entdeckungen ermöglichen und sich bequemen Lösungen verweigern. Dazu passte der Eröffnungsfilm in keiner Weise. Allerdings schwingt in den programmatischen Thesen eine weltverbessernde Moral mit. Sie lässt die Grenzen zwischen „gut gemacht“ und „gut gemeint“ verschwimmen und zieht immer wieder die „löbliche Botschaft“ der bestechenden Form vor. Aus diesem Wechselbad kamen denn auch die ersten vorgeführten Filme. Der Beginn war flau.
Nett und nichts sagend
Dem harmlosen und symbolistisch überladenen Tierfilm „No estoy muerto, solo estoy dormido“ von Juan S. Lopez Maas folgten „Eau douce, eau salée“ von Aya Tanaka als düsteres Familiendrama und „Icebreakers“ von Maximilien van Aertryck als langweilige Reportage einer nächtlichen Schiffsreise. Es bleibt das Rätsel der Auswahlkommission, Beiträge anzunehmen, die im besten Fall thematisch auf eine Diskussion einstimmen, diese jedoch nicht zu bereichern vermögen. Für mehr als sich selber stehen die drei Filme nicht.
Eindringliche Erzählung
In die Nähe dessen, was ein durchdachter und sorgfältig realisierter Dokumentarfilm leistet, kam „Cadenas“ von Francesca Balbo. Der sardische Titel meint einerseits die Ketten, mit denen auf Sardinien Bahnübergänge während der Zugsvorbeifahrt gesichert werden, und anderseits die sozialen Ketten, in denen die Frauen gefesselt sind, die für diese Absperrungen sorgen. Den Protest gegen die tiefe Löhne beantworten die Bahnbetreiber mit der Drohung, automatische Barrieren einzurichten.
Der Film rückt das monotone, mit grösster Gewissenhaftigkeit und archaischem Stolz ausgeübte Handwerk in schöne, aussagekräftige Bilder. Mal wartet der Zuschauer mit den Frauen auf die verlotterten Triebwagen, mal sitzt er in diesen mit dem Gefühl der Sicherheit und weiss, dass auf die Nostalgie eine Endstation wartet. Die Modernisierung wird den Frauen Arbeit und Verantwortung nehmen. Francesca Balbo spiegelt in der Gegenwart die Zukunft: einfach, eindringlich, mit greifbaren Widersprüchen.
Eiskalte Realsatire
Den Blick in eine künftige Arbeitswelt öffnete auch Carmen Losmann mit „Work hard, play hard“. Der Film ist während seiner neunzig Minuten ausholend, wortlastig und bildlich arm. Und spannend, aufwühlend und entlarvend faszinierend. Architekten und Unternehmensberater entwerfen die Bürogebäude und die Arbeitsmethoden von morgen. Den heiter geschliffenen und fachchinesisch formulierten Verheissungen des künftigen Paradieses auf Erden folgt der Film kommentarlos mit stoischer Gleichmut. Daraus wird eine eiskalte Realsatire.
Zu welchen Glücksversprechen sich der Manager-Slang auch versteigt: es geht nur darum, den Menschen auf höchste Leistungsbereitschaft zu trimmen. Der Weg zurück zum Galeerensträfling führt über Hightech, „nicht territoriale Arbeitsplätze“ und „multimobilen Know-how“. Diese Erkenntnis beruht auf der dokumentarischen Qualität der präzisen Beobachtung.
Bis zum 27. April hat Nyon Gelegenheit, sie mit weiteren Beispielen zu beweisen: www.visionsdureel.ch