Der gesellschaftliche Konsens bewegt sich in Richtung Selbstbestimmung am Lebensende. In kleinen Schritten passt sich in Europa die Gesetzgebung den sich verändernden Bedürfnissen an. Bei hochaltrigen Menschen darf die Respektierung von Sterbewünschen kein Tabu mehr sein.
Ein Sterbewunsch in jungen Jahren geht gegen die Weitergabe des Lebens und muss oft therapeutisch aufgefangen werden. Bei Hochaltrigen hingegen kann der Entscheid zum Abschied ein reifes Einverständnis mit dem Lebenszyklus bedeuten, das Unterstützung verdient. Uneingeschränkte finale Selbstbestimmung sollte ein Altersprivileg sein.
Wo aber liegt die Altersgrenze? Wie kann man gleichzeitig die Schwachen vor sich selbst und anderen schützen und alten, lebenssatten Menschen helfen? Dieses Dilemma ist eine grosse ethische Herausforderung.
Altersgrenzen im Gesundheitsbereich sind heikel. Niemand fasst das heisse Eisen an. So muss denn der Todeswunsch einer multimorbiden Urgrossmutter gleich behandelt werden wie der eines Adoleszenten nach einer misslungenen Aufnahmeprüfung. Um nicht in den Verdacht der Altersdiskriminierung zu geraten, wird der Elefant im Raum ignoriert, nämlich die Tatsache, dass wir alt werden und sterben.
Die Option Freitod
Alle wünschen sich einen sanften, natürlichen Tod. Selbst Exit-Mitglieder, die sich gründlicher mit dem Sterben auseinandergesetzt haben dürften als die Durchschnittsbevölkerung, wählen in den wenigsten Fällen den Freitod. Bei einem schnell wachsenden Mitgliederbestand von gegenwärtig über 150’000 waren es weniger als ein Prozent der Exit-Mitglieder, die sich im letzten Jahr in den Tod begleiten liessen. Wenn man eine Brandversicherung abschliesst, heisst das nicht, dass man das Haus anzünden will, sondern im Gegenteil, dass man den Schaden begrenzen möchte, wenn es brennt. Beinahe immer geht es um den Freitod als Möglichkeit, um die Option Freitod.
Über die Option Freitod zu verfügen, bedeutet für zahlreiche Hochaltrige eine immense Erleichterung. Die Gewissheit, nötigenfalls einen Ausweg zu haben, erhöht die Lebensqualität auf der Zielgeraden.
Das Entlastungspotenzial der Option Freitod kommt erst langsam ins Blickfeld. Es kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Über die Option Freitod zu verfügen, bedeutet für zahlreiche Hochaltrige eine immense Erleichterung. Die Gewissheit, nötigenfalls einen Ausweg zu haben, erhöht die Lebensqualität auf der Zielgeraden. Sie gibt den Betroffenen ihre Autonomie zurück. Sterblichkeit hört damit auf, ein nur passiv zu ertragendes Schicksal zu sein, sondern kann dank der Option Freitod wenn nötig aktiv mitgestaltet werden. Wenn der Übergang ins Unbekannte selbst initiiert werden kann, gewinnt das Ende eine zusätzliche entlastende Dimension.
Die autoritätskritischen Boomers
Die gegenwärtig Alten sind die aufmüpfigen Boomers der Nachkriegsgeneration. In ihrer Jugend protestierten sie gegen die Autoritäten, gegen die angepassten Eltern, gegen die universitären Hierarchien und gegen den Staat. Bei den vom wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit Verwöhnten stand die Existenzsicherung nicht im Zentrum, was den Anpassungsdruck verkleinerte. Sie waren frei, mit Ideologien zu experimentieren und sich an ihrer eigenen Befindlichkeit zu orientieren. Auf der psychoanalytischen Couch wurden die Eltern gewogen und zu leicht befunden. Der Marxismus verdammte das kapitalistische System und seine Anhänger fühlten sich moralisch überlegen. Das Wirtschaftswunder und die Nazivergangenheit der Väter standen in der Kritik.
Diese Generation war nicht bereit, überlieferte Strukturen, Einstellungen und Glaubenssätze ungeprüft zu übernehmen, und sie ist es immer noch nicht. In diesem Zusammenhang muss auch die finale Selbstbestimmung gesehen werden. Die Boomers haben das Hinterfragen vorgegebener Positionen eingeübt. Für viele von ihnen ist die finale Selbstbestimmung eine Selbstverständlichkeit. Sie sind mit ihrer Haltung und den daraus folgenden Bedürfnissen den gesetzlich eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten voraus.
Respekt vor dem freien Willen
Über Jahrhunderte sah man den Freitod als verwerfliche, strafwürdige Handlung, als einen Akt wider den Willen des Schöpfers. Man glaubte, dass nur Gott, der das das Leben schenke, es auch nehmen dürfe. Das war einmal. Die Säkularisierung hat Gott als Herrn über Leben und Tod entlassen und den selbstverantwortlichen Menschen an seine Stelle gesetzt in einem Prozess, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Langsam löst sich die Verurteilung des Freitodes auf. Er wird zunehmend wertneutral eingestuft als eine Äusserung des freien Willens.
Mit medizinischer Hilfe ist heute ein weitgehend schmerzfreies, menschenwürdiges Sterben möglich. Aber weil die Reste der alten Tabuisierung den Freitod immer noch überschatten, wird diese Möglichkeit verboten oder an Bedingungen geknüpft.
Mit dem Argument, Betroffene schützen zu wollen, werden Hindernisse aufgebaut. Die autoritätsgeprägten Hierarchien von Medizin und Kirche verwalten das Sterben und verteidigen ihre Einflusssphären. Wenn alte Menschen dann gehen könnten, wenn es für sie an der Zeit ist, hätte das die Schwächung dieser Institutionen zur Folge. Die Altenindustrie dürfte dann erhebliche Verluste erleiden. Da sind Pfründen zu verlieren.
Was ist Respekt vor dem Leben, wenn nicht Respekt vor dem freien Willen derer, die es angeht?
Der Respekt vor dem Leben wird als weiteres Argument gegen den Freitod ins Feld geführt. Aber was ist Respekt vor dem Leben, wenn nicht Respekt vor dem freien Willen derer, die es angeht? Alte Menschen müssen mehrheitlich nicht geschützt, sondern in ihren eigenen Entscheidungen respektiert und unterstützt werden.
Bevormundung der Alten durch die Jungen
Die Sterbehilfeorganisation Exit knüpft die Sterbebegleitung an Bedingungen. Im Bericht der Exit-Ethikkommission über den Altersfreitod (Exit-Info 3, 2021, S. 19) steht im Zusammenhang mit der Zulässigkeit von Sterbebegleitung: «Es muss zum einen ein subjektiv unerträgliches Leiden vorliegen.» Ausserdem «muss die Leidenssituation irreversibel sein». Es werden Kriterien definiert, die den Zugang zur Sterbehilfe regeln. Massgebend soll nicht der freie Wille der Sterbewilligen sein, sondern die Entscheidungskriterien der Organisation, auf die sie angewiesen sind. Die Sterbewilligen müssen, damit sie Hilfe bekommen, die Unerträglichkeit ihres Leidens nachweisen. Wann dieses Mass erfüllt ist, bestimmen andere.
Die Exit-Ethikkommission postuliert als weiteres Kriterium für die Sterbehilfe: «Der Sterbewunsch muss nachvollziehbar sein.» Diejenigen, die entscheiden, sind oft um einiges jünger als die Betroffenen. Deren erwachsene Kinder, die Ärztinnen, die Pflegenden, die Leitenden von Spitälern und Pflegeheimen und die Sterbebegleiter gehören in der Regel einer jüngeren Generation an. Sie entscheiden über eine Situation, die sie nicht erfahren haben, und übertragen ihre eigene Befindlichkeit auf die Sterbenden. Sie sind unfähig, sich vorzustellen, dass die Betroffenen ihre Situation ganz anders erleben könnten.
Der Sterbewunsch eines alten Menschen kann Dimensionen haben, die für jüngere Menschen nicht nachvollziehbar sind. Deshalb muss das Kriterium der Nachvollziehbarkeit fallengelassen werden.
Leiden spielt bei einem Sterbewunsch häufig eine Rolle, aber es ist nicht der einzig mögliche Grund. Es gibt gerade im Alter andere gute Gründe für einen Sterbewunsch. Aus der Perspektive von Jüngeren kann nur Leiden die Ursache für einen Todeswunsch sein, und nur Leiden kann ihn legitimieren. Das ist zu eng gesehen. Der Sterbewunsch eines alten Menschen kann Dimensionen haben, die für jüngere Menschen nicht nachvollziehbar sind. Deshalb muss das Kriterium der Nachvollziehbarkeit fallen gelassen werden. Bei hochaltrigen Sterbewilligen sollte die einzige Voraussetzung für die Erfüllung eines Freitod-Wunsches ihre Urteilsfähigkeit sein.
Der Lebenszyklus
Der Lebenszyklus beginnt mit einer Initialzündung, die eine körperliche und mentale Entwicklung in Gang setzt. Das Leben nimmt Fahrt auf. Der Überlebensinstinkt schützt das Leben mit blitzschnellen Reflexen. Der Arm hebt sich vor das Gesicht, bevor der Schlag es treffen kann. Auch die mentalen Kräfte dienen dem Überleben. Nur schon im medizinischen Bereich machen wir uns kundig und suchen nach den besten Strategien. Wir realisieren unsere Fähigkeiten und schöpfen unsere Talente aus. Wir öffnen uns für Sinn und Schönheit, die das Leben lebenswert machen.
Lange wehrt sich alles gegen die Endlichkeit menschlichen Lebens. Dann aber lassen die Kräfte nach. Die gausssche Glockenkurve der Vitalität erreicht ihren Zenit, um dann allmählich abzusinken. Nicht Überleben ist nun angesagt, sondern Loslassen. Die Begleiterscheinungen des Alters unterstützen diesen Prozess. Der Körper verliert seine Widerstandskraft. Sehfähigkeit und Gehör lassen nach, mindern die physische Verbindung mit der Welt und schwächen die soziale Präsenz. Das Gleiche bewirken kognitive Altersveränderungen wie geistige Verlangsamung und Gedächtnisschwäche.
Partner und Freunde sterben. Auch damit lichtet sich die Verankerung im sozialen Sinngefüge. Das körperliche Schwächeln, das Nachlassen der kognitiven Fähigkeiten und der Verlust an Gefühlsintensität setzen dem Lebenswillen zu. Er wird langsam aufgebraucht und wehrt sich weniger gegen das Ende. Das ist eine Voraussetzung für einen guten Übergang vom Leben in den Tod.
Dissonanz mit dem Lebenszyklus
Nach C. G. Jung ist das Akzeptieren des Lebenszyklus, das Einverständnis mit der Endlichkeit, die grosse Aufgabe der zweiten Lebenshälfte. Unsere Kultur erschwert ihre Erfüllung. Wir sind nicht mehr im Kontakt mit den Rhythmen unseres Lebens weil wir den Rhythmen der Natur entfremdet sind. Der Wechsel von Hell und Dunkel geht verloren. Künstliches Licht überscheint die Nacht. In den Städten sind die Jahreszeiten weniger spürbar. Auch die Lebenszyklen von Tieren erreichen uns seltener und helfen uns nicht mehr dabei, die allem Lebenden innewohnenden Gesetzmässigkeiten zu erkennen. Das Stirb und Werde der Natur hat seine prägende Kraft verloren.
Das Altwerden wird bekämpft und der Tod verdrängt. Obwohl die Zahl alter Menschen im Vergleich mit jungen proportional zunimmt, wird das Abfallen des Lebensbogens ausgeblendet.
Jugend und Alter balancieren sich nicht mehr gleichwertig aus. Das Altwerden wird bekämpft und der Tod verdrängt. Obwohl die Zahl alter Menschen im Vergleich mit jungen proportional zunimmt, wird das Abfallen des Lebensbogens ausgeblendet. In unserer wissenschaftsgläubigen Kultur schieben wir das Ende durch medizinische Eingriffe hinaus. Es wird behandelt bis zum Gehtnichtmehr. Auf dem Fliessband lebensverlängernder Behandlungen kommen wir nicht mehr zum Innehalten.
Der Kampf gegen den Tod deckt die Verbindung mit den natürlichen Lebensrhythmen zu. «Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross …» Ein Einverständnis, wie es diese Zeilen Rilkes ausdrücken, kann sich in der Hetze von einer Abklärung zur anderen, im Wechsel von Eingriff, Erholung und Eingriff nicht bilden. Die eingeleisige Antwort auf die Endlichkeit des Lebens erfolgt in unserer Gesellschaft vorwiegend auf der körperlichen Ebene und führt oft zu unreflektierten medizinischen Eingriffen.
So wird es denn nötig, sowohl dem wissenschaftsgläubigen Zwang zur Lebensverlängerung als auch den weltfremden Geboten einer gnadenlosen Kirche eine selbstverantwortliche Entscheidung entgegenzusetzen.
Der Kreis schliesst sich
Dank der neuen Langlebigkeit erleben viele Menschen den vollständigen natürlichen Lebenszyklus. Die körperlichen und mentalen Zeichen der Endlichkeit sind ein Weckruf. Die Nachdenklichen unter den Hochaltrigen nutzen ihre Zeit, um sich mit ihrer Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Die menschliche Reifung im Alter bringt, wenn sie sein darf, Veränderungen hervor, die letztlich ins Einverständnis mit der Endlichkeit münden können. Die Trauer um das Schwindende mischt sich mit der Dankbarkeit für das Erlebte. Alte Menschen können auf eine gute Art lebenssatt sein und in verantwortungsvoller Freiheit wahrnehmen, dass sich ihr Lebenszyklus geschlossen hat. Sie haben gelebt, was zu leben ist. Von da an sind sie für den Tod bereit.
Im Alter kann der Tod ein neues Gesicht bekommen. Er wandelt sich von einem Feind zu einem vertrauten Begleiter oder sogar zu einem ersehnten Ziel.
Die Beziehung zum Tod verändert sich mit dem Älterwerden. Im Alter kann der Tod ein neues Gesicht bekommen. Er wandelt sich von einem Feind zu einem vertrauten Begleiter oder sogar zu einem ersehnten Ziel. «Einschlafen dürfen, wenn man müde ist, und eine Last fallen lassen, die man lange getragen hat, das ist eine wunderbare Sache», schreibt Hermann Hesse.
Ein weiteres Zeugnis eines lebensgeprüften, weisen Menschen, der dem Alter und dem Tod souverän begegnet, kommt vom 2008 verstorbenen russischen Nobelpreisträger Solschenizyn: «Wieviel leichter ist es dann, wieviel empfänglicher sind wir für den Tod, wenn vorrückende Jahre uns sanft unserem Ende entgegenführen. So ist das Altern in keiner Weise eine Strafe von oben, sondern bringt seine eigenen Gaben und seine ihm eigene warme Färbung. Sogar das Schwinden der Kräfte kann diese Wärme generieren – wenn ich nur daran denke, wie robust ich damals gewesen bin! Man kommt nicht mehr ohne Unterbrechungen durch den Tag, aber wie schön ist es, in die kurze Bewusstlosigkeit eines Schläfchens zu versinken, das einem ein Erwachen in die Klarheit des zweiten oder dritten Morgens des Tages schenkt. Und der Geist kann sich an einer beschränkten Nahrungsaufnahme und am Beenden der Jagd nach neuen Geschmacksreizen erfreuen. Man ist immer noch im Leben verankert, und doch erhebt man sich über die materielle Ebene. Gelassen und heiter altern ist kein Abstieg, sondern ein Aufstieg.» (Übersetzt aus The New Yorker, August 2001)
Die Bibel schaut mit gelassenem Blick auf den Tod: «Und Abraham verschied und starb in einem guten Alter, als er alt und lebenssatt war und wurde zu seinen Vätern versammelt.» Wenn der Hunger nach Leben gestillt ist und sich der Kreis schliesst, kommt der richtige Moment. Der Tod vollzieht die Gesetzmässigkeit, die in allem Lebendigen angelegt ist.
Dass es ein gutes Alter zum Sterben geben könnte, wird in unserer Kultur zu wenig gesehen. Wir müssen als Gesellschaft so weit kommen, einen reflektierten, verantwortungsvollen Freitod alter Menschen zu bejahen und mitzutragen.