Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich in unserer Gesellschaft eine Lockerung der Todesverdrängung des 20.Jahrhunderts ab. Diese Verdrängung hatte ein einseitig negatives Todesbild zur Folge. Damit öffnete sich der Fächer und zeigte andere Facetten des Todes. Die Tabuisierung des Todes wich einem wachsenden Interesse.
Versöhnung mit der Lebensbilanz
Die Medien befassten sich mit Themen rund um den Tod. Vorträge, Podien und Diskussionsgruppen förderten die individuelle Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit. Immer mehr Ärzte sprachen mit dazu noch fähigen todkranken Patienten über deren Zustand. Paare verständigten sich über ihre Sterbewünsche und verpflichteten einander gegenseitig zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen. Der selbstbestimmte Tod fand breite gesellschaftliche Unterstützung, was sich schliesslich in der Änderung der Gesetzesanwendung niederschlug.
So unterstützte das deutsche Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 den Antrag eines Mannes, der selbstbestimmt sterben wollte. In der Schweiz steht in der Ärzteschaft der erleichterte Zugang zur Sterbehilfe zur Diskussion.
Nach C. G. Jung ist das Akzeptieren der eigenen Sterblichkeit das Reifeziel der zweiten Lebenshälfte. Die gesellschaftliche Suche nach einem neuen Todesbild unterstützte die Reifung zur gelassenen Koexistenz mit dem irgendwann zu erwartenden Tod. Die Möglichkeit eines guten Todes kam langsam besonders auch bei Bejahrten in Sichtweite. Die Versöhnung mit der Lebensbilanz führt zum Einverständnis mit der Sterblichkeit. Lebenssatte, dankbare Langlebige blicken dem Tod mit Gleichmut entgegen. Der Tod erlöst von Leid und Schmerzen. Sterbebegleiter berichten von Kämpfen, aber auch von lichter Heiterkeit und einem tiefen Frieden, die Sterbende und Tote ausstrahlen können. Der Tod schliesst den Kreis: Es ist vollbracht.
Der Coronaschock
Wie ein dröhnender Paukenschlag in die Stille brach Corona über uns herein. Der Coronaschock hat den Prozess einer neuen kollektiven Integration des Todes ins Weltbild unterbrochen. Die individuelle Annäherung an die eigene Sterblichkeit, die damit zusammenhängt, wird gestört. Den brutalen Bildern von Intensivstationen mit schwer coronakranken Menschen entgeht niemand. Die Vereinzelung des Individuums in unserer übertechnisierten, überdigitalisierten Zeit wird von dem unmenschlichen Coronatod auf die Spitze getrieben. Menschen hängen hilflos an Beatmungsmaschinen zwischen Leben und Tod. Weissverhüllte, durch die Schutzkleidung unkenntliche Pflegende müssen die Sterbenden einer trostlosen Einsamkeit überlassen. Gummihandschuhe verunmöglichen eine unmittelbare Berührung und hinter Schutzbrillen versteckte Augen erschweren den Blickkontakt. Die Angst vor der Ansteckungsgefahr reduziert die Begleitung durch Angehörige auf ein Minimum und behindert den Abschied. Die für die Gemeinschaft so notwendigen Übergangsrituale, die jede Gesellschaft für den Todesfall bereithält, müssen aus Sicherheitsgründen reduziert oder ganz fallen gelassen werden.
Corona und die Reifung zur Sterblichkeit
Die Reifung zur Einsicht in die eigene Sterblichkeit geschieht bei jedem Menschen nach ihrer individuellen Gesetzmässigkeit in ihrem eigenen Tempo. Sie ereignet sich weitgehend unbewusst und kann willentlich nur beschränkt beeinflusst werden. Bis das theoretische Wissen um die eigene Sterblichkeit sich zu einem belastungsfähigen Begreifen gewandelt hat, dauert es lange. Corona stört die subtile Verschiebung der Gewichtung von der Angst hin zum Vertrauen, welche die freiwillige Annäherung an die Sterblichkeit auszeichnet.
Durch Corona wird der Tod von einer fernen Ahnung schlagartig zu einer unmittelbaren Bedrohung. Es bleibt keine Zeit für eine behutsame Integration. Wer nicht vorbereitet ist, schaut weg oder gerät in Panik und getraut sich aus Angst vor den Aerosolen kaum noch zu atmen. Wie eine verfrühte Deutung in einem therapeutischen Prozess stört Corona die gesellschaftliche und die individuelle Suche nach einem lebensfreundlicheren Bild des Todes, wie es sich zuvor abgezeichnet hatte. Ausgerechnet im Moment, in dem eine einvernehmliche Einstellung zum Tod besonders bei den Risikogruppen wünschbar wäre, wird sie der Zerreissprobe Corona ausgesetzt.
Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben
Corona regt die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit an. Das hat nicht nur Nachteile. Der Schatten verweist auf das Licht. Wo dem Tod der ihm gebührende Platz eingeräumt wird, gewinnt das Leben an Tiefe. Der Tod zerreisst den Vorhang der Selbstverständlichkeiten und gibt die Sicht auf das Eigentliche frei. Nicht umsonst thronte auf dem Schreibtisch von mittelalterlichen Gelehrten ein Totenschädel. Dieses Memento Mori wurde als Quelle der Weisheit angesehen. Der Tod schärft den Blick für die Kostbarkeit des Lebens. Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben.
Paradoxerweise gilt auch das Gegenteil: Wer den Tod nicht verdrängt, lebt nicht. Während das Todesthema im Hintergrund rumort, fordert die Alltagsbewältigung die Zuwendung zum Tagesgeschehen. Corona konstelliert mentale Abwehrmassnahmen. Die gesunde Auflehnung gegen die Belagerung durch diese dunkle Wolke bricht sich Bahn. Ein Stück weit haben wir eine Wahl, wieviel Aufmerksamkeit wir der Pandemie zukommen lassen.
Corona erschwert die leichten, zufälligen Kontakte, die wir so brauchen. Das nun seltener gewordene Zusammensein mit Kollegen und Freunden sollte von Coronathemen nicht zu sehr überwuchert werden. Bei Gesprächen folgt auf einen ersten Austausch über Gesundheit und Schutzstrategien häufig das bewusste Umschalten auf andere Themen. Informationen und Anteilnahme festigen das Beziehungsnetz. Man einigt sich über politische Ereignisse, sucht nach Lösungen und amüsiert sich über Absurditäten. Man spricht über Helles, über die Schleiertänze der Sonne in den umnebelten Baumwipfeln beim Waldspaziergang und tauscht sich über die durch Skype vermittelten genialen Erfindungen des jüngsten Enkelkindes aus. Die Geborgenheit im vertrauten, wohligen Miteinander kräftigt erwiesenermassen das Immunsystem. Eine generöse Dosis Freundschaft tut auch prophylaktisch gut. Die Bedrohung weckt die Lebensfreude, nach dem Motto: Jetzt erst recht! Der Martin Luther zugeschriebene Spruch hat nicht umsonst Jahrhunderte überlebt: «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.»