Die fünf neuen, erstmals in der Schweiz gezeigten italienischen Filme werfen einen ebenso liebevollen wie schonungslosen Blick auf das zeitgenössische Italien – „die Wirtschaftskrise, die Situation der Jugend, den sozialen Verfall.“
Wo ist Hilfe?
Als ordnende Prinzipien treten die Mafia oder kleinere mafiöse Gruppen auf. Recht oder Kirche wirken unverlässlich und impotent. Immer wieder sind es Frauen, die, ohnmachtsgewohnt, im Chaos noch zu navigieren verstehen – Mütter, die für ihre Familie sorgen, junge Mädchen, Kinder, die ihre Wege finden. In misslichen Zeiten blickt der Mann gerne immer mal wieder hilfesuchend zur weiblichen Seite.
Die Schule als Abbild der grösseren Welt
Giuseppe Piccionis „Il Rosso e il Blu“ (Italien 2012) ist ein kleines Bijou, ein Geflecht von Geschichten, unterhaltend, lustig, differenziert und intelligent. Margherita Buy verkörpert eine etwas altjüngferliche, verhemmte Schulleiterin, mit ihr hat Giuseppe Piccioni schon die ebenso bemerkenswerte Geschichte über die Welten einer jungen Nonne gedreht («Fuori dal mondo», 1999).
Die traditionellen Orientierungshilfen scheinen in den Spannungsfeldern von Beruf und Privatleben, Prinzipien und zwischenmenschliche Dynamik nichts mehr zu taugen. Der zynisch gewordene, verbitterte alte Kunstlehrer (Roberto Herlitzka) verleiht dieser Situation komödiantischen Ausdruck – bis in der Begegnung mit einer ehemaligen Schülerin seine Liebe zur Kunst wieder auflebt.
Immigrationsland Italien
«Tutti contro Tutti» (Rolando Ravello, Italien 2013) spielt in einer römischen Vorstadt. Dort kann es vorkommen, dass man eines Tages aus seiner Wohnung ausgesperrt ist, weil deren legitimer Besitzer nicht nachzuweisen ist und man die Miete, wie es sich herausstellt, immer an einen lokalen Kriminellen bezahlt hat. Wie Agostino (von Ravello selbst gespielt), seine schöne und kluge Frau (Kasia Smutniak) und seine Familie mit der Situation umgehen, ist Thema dieses leicht und versöhnlich gehaltenen Films, der aber unter anderem auch auf das – bei aller Fremdenfreundlichkeit – schwere Problem der ungeregelten Immigration hinweist.
Ordnungsmacht Mafia
«L'intervallo» von Leonardo Di Costanzo (Italien 2012) ist ein Low-Budget-Film, der sich in einer zerfallenden Liegenschaft mit verwildertem Garten einrichtet. In diesem labyrinthischen Setting soll der von der Neapolitaner Mafia wahllos aus seinem Alltag herausgegriffene junge Salvatore eine junge Frau bis zum Abend bewachen, damit sie nicht wegläuft.
Die beiden kreisen in wechselnden Stimmungen umeinander herum, es entsteht eine brüchige Vertrautheit zwischen ihnen – während ausserhalb ihres Raums die Ordnungsmacht Mafia herrscht. Die Zeit bis zum Abend ist nur ein Intervall.
Licht und Verblendung im Berlusconiland
«Reality» (Italien 2012) von Matteo Garrone ist die Geschichte einer Verblendung durch die Glitzerwelt des Fernsehens und den Glanz des Geldes. Luciano, Fischhändler in Neapel, der hie und da auch als Clown auftritt und zuweilen etwas Krummes dreht. Er lässt sich darauf ein, beim „Grande Fratello“ im Wettbewerb zu kandidieren. Damit verliert er den Boden der Realität unter seinen Füssen. Hilflos schaut seine Frau, schauen seine Freunde dem Geschehen zu.
Dieses Desaster wird von einem Chor aus den Neapolitaner Freunden und dem Big-Brother-Star begleitet: nur Mut; nur die Hoffnung nicht verlieren; es kommt schon gut; reg Dich nicht auf; pazienza, und: „never give up!“ Solche Refrains von wohlmeinender Gedankenlosigkeit zu den Strophen einer sich ausbreitenden Katastrophe begleiten auch den Helden von „Tutti contro Tutti“. Sie helfen durchhalten, trüben aber gleichzeitig den Blick.
Der dokumentarische Blick
In «Bellas Mariposas» (Salvatore Mereu, Italien 2012) berichtet uns die zwölfjährige Caterina aus Cagliari (Sardinien), vielfach direkt in die Kamera, also ins Publikum redend, von ihrem Alltag: von dem mit Sex und Alkohol vollbeschäftigten Vater, der Mutter, die für alles sorgt – auch sie lebe von Arbeitslosengeld, arbeite aber den ganzen Tag, sagt Caterina – von den pubertär beschäftigten Geschwistern und der besten Freundin Luna. Ihre Liebe gilt dem etwas unbeholfenen Gigi, aber den fasziniert gerade eine andere, was ihm die Feindschaft eines der Brüder zuzieht. Caterina erzählt aufrichtig und mit dem bisweilen fast stossend distanzierten Interesse einer Dokumentaristin.
Wunder
Das Programmheft zur „Cinema Italiano“-Reihe weist ausserdem noch auf „Le meraviglie“ hin, den neuen, zauberhaften Film von Alice Rohrwacher (Italien-Schweiz 2014). Er ist bei den Filmfestspielen von Cannes 2014 mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet worden und wird ab 6. November in der Schweiz anlaufen. Rohrwacher erzählt von Wundern, die passieren oder doch passieren könnten, wenn Phantasien und Realitäten – der ProtagonistInnen, der Filmerin, der FilmkonsumentInnen – in einander fliessen.
Auch hier werden die Wunder wieder von einer Frau mediiert.
Genderdinge
Die Neuseeländerin Jane Campion ist die einzige Frau, welcher an den bisherig siebenundsechzig Ausgaben der Filmfestspiele von Cannes wenigstens eine halbe Goldene Palme verliehen worden ist. Das war 1993, für ihr „The Piano“ – die andere Hälfte ging an Chen Kaige für „Farewell My Concubine“.
2014 nun war Campion führendes Mitglied der Jury. In ihrer Rede zur Eröffnung des Festivals hat sie beklagt, dass auch in diesem Jahr von 18 Wettbewerbsfilmen nur zwei von Frauen stammten – einer davon Rohrwachers "Le Meraviglie". "I think you'd have to say there's some inherent sexism in the industry," führte sie anlässlich einer Pressekonferenz aus. "Time and time again, we don't get our share of representation." "It's not that I resent the male film making, but there is something that women are doing that we don't get to know enough about.
Auch die schöne, frauenfreundliche Auswahl des “Cinema Italiano” besteht aus Werken von Männern. Ein Wunder – oder doch keins? – dass im Programmheft zur italienischen Reihe auf “Le Meraviglie” hingewiesen wird.
„Cinélibre“
Die “Cinema Italiano“-Auswahl wurde von „Cinélibre“ (Verband Schweizer Filmklubs und nicht-gewinnorientierter Kinos) und «Made in Italy» (Rom), zusammengestellt, in Zusammenarbeit mit dem Italienischen Kulturinstitut (Zürich). Sie steht unter der Schirmherrschaft der italienischen Botschaft der Schweiz. Die Serie wird in dreizehn Schweizer Städten gezeigt, zu versetzten Zeiten, zwischen Oktober und Mitte Dezember, überall auf Leinwänden des Cinélibre.
Dieses Netzwerk von zur Zeit 76 Klubs und Kinos feiert heuer sein 40jähriges Jubiläum. Es verdient ein Lang-soll-es-leben, denn es sorgt für die Vorführung von interessanten, besonderen, zuweilen exquisiten Werken, die anders womöglich nicht zu sehen wären. Und es sorgt für Reihen wie „Cinema Italiano“ – Genaueres über Orte und Zeiten ist hier zu sehen.