Ein Jahr lang haben wir Journalisten uns mit dem Mann im Weissen Haus zu Washington beschäftigt: mal lustvoll, mal mit Widerwillen. Der Mann ist für einen derart wichtigen Politiker von seltener Unberechenbarkeit, was dazu führt, dass alles, was er sagt und tut, die mediale Reaktion ganz besonders reizt und zu einem flächendeckenden Ausstoss an Analysen, Kommentaren, Spekulationen führt. Man mag die neuesten Trumpismen nicht mehr lesen, will nichts mehr wissen – und ertappt sich dabei, an ihrer Verbreitung mitzuwirken.
Die (vornehmlich negative) Faszination, die Trump auf Journalisten ausübt, beruhe, so der US-Historiker Timothy Snyder in einem „Tages-Anzeiger“-Interview, auf dem Umstand, dass Trump „ein fiktionaler Charakter“ sei, einer, der die reale Welt notorisch verdränge, Rollen spiele.
Vielleicht stimmt das ja. Tatsächlich beschleicht einen, wenn man ihn so drohen und fuchteln sieht, seine Twitter-Sottisen liest, ein mulmiges Gefühl und man zweifelt am Realitätssinn des Präsidenten.
Fiktionaler und also nicht ernst zu nehmender Trump? Eine gefährliche Folgerung. Der Mann realisiert in der realen Welt so viel er kann von seinen menschen- und umweltfeindlichen Ideen. Die Genugtuung darüber, dass ihm die grossen Vernichtungsschläge bisher noch nicht gelungen sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihm Macht genug bleibt, um sein allgemeines Abbruchwerk, wo immer es ihm passt, in Gang zu setzen.
Wir Journalisten verstehen uns als Vertreter der Realität. Statt an Trumps „fiktionalem Charakter“ herumzurätseln, müssten wir uns mit seinen (Un)taten beschäftigen. Was leider, da er so unternehmungslustig ist, mehr und immer noch mehr trumplastigen Textausstoss bedeutet.