Über das Wochenende vom 10. bis zum 12. Juni sind in Tunesien Unruhen ausgebrochen, möglicherweise die beunruhigendsten seit dem Beginn der Demokratie. Die Regierung hat besonnen reagiert. Doch die Ereignisse unterstreichen die unbewältigten Schwierigkeiten des neuen Regimes.
Die Unruhen hatten sich an einer Kunstausstellung, "Printemps des Arts", in der vornehmen Vorstadt von Tunis, La Marsa, entzündet, die in einem staatlichen Kulturpalais organisiert worden war. Wie schon bei früheren Unruhen und Zusammenstössen fühlten sich die tunesischen Salafisten von den Künstlern provoziert, und man kann schwerlich abstreiten, dass Provokationen beabsichtigt waren.
Kunst, Meinungsfreiheit und Provokation
Manchen Künstlern geht es darum, die offiziell erklärte und bestehende Meinungsfreiheit in Tunesien zu testen und die Grenzen dieser Meinungsfreiheit zu erproben - vielleicht in der Hoffnung, sie auszuweiten. Das geschieht jedoch wohl auch, weil solche Provokationen Aufsehen erregen und Aufsehen leicht mit Erfolg verwechselt werden kann.
Es gab in der Ausstellung ein "Kunstwerk" zu sehen, auf dem der Schriftzug des Namen Allahs mit toten Fliegen zusammengesetzt war. Auch andere Provokationen fehlten nicht. Wenn man so will, war das einfallsreich, jedoch rücksichtslos gegenüber den Gefühlen der Muslime und brandgefährlich.
Krawall in den Luxusquartieren
Schon am Sonntagnachmittag musste die Polizei in der Ausstellung eingreifen, weil manche Besucher wütend wurden und Drohungen aussprachen. Am Abend kam es zuerst zu einer Konfrontation vor der Ausstellung zwischen den Künstlern und ihren Freunden und einer Gruppe von Salafisten. Die Polizei versuchte, beide Seiten zu beruhigen. In der Nacht jedoch kamen Salafisten in Autos - die offiziellen Stellen sprechen von rund 300 - stürmten die Ausstellung gestürmt und beschädigten einzelne Exponate.
Im Verlaufe der Nacht kam es dann zu heftigen Konfrontationen in La Masra, Sidi Bou Said und Carthage. Diese gehören zu den elegantesten und reichsten Vorstädten der Grossstadt. Polizeistationen wurden gestürmt und verbrannt. Die Polizei verwendete Tränengas, um sich zu schützen. Doch vermied sie es, scharf zu schiessen. Sie räumte eine ihrer Stationen, die dann ausgebrannt wurde. Plünderer und Unzufriedene schlossen sich offensichtlich den Salafisten an. Ein Arzt erklärte, unter den 40 Verwundeten, die er behandelte, habe es Personen gegeben, die Bärte und Kleidung von Salafisten trugen, aber auch Narben von Einstichen durch Spritzen am Körper aufwiesen, die den Gebrauch von Drogen verrieten.
Die Stimme von Qa'ida
Der ferne Qa'ida-Chef, Zawahiri, der sich möglicherweise in Pakistan oder Afghanistan versteckt hält, war offenbar auf dem Laufenden. Er gab über das Internet schon am 11. Juni eine Erklärung ab, in der er die herrschende islamische Partei, an-Nahda, der Abweichung vom orthodoxen Islam beschuldigte und die echten Muslime unter den Tunesiern aufrief, sich gegen die Regierung von an-Nahda zu erheben. Nahda, so sagte er, habe eine Art von Islam angenommen, die dazu diene, »das State Department in Washington, die EU und die Golf-Scheichs zu besänftigen«.
Die Regierung reagierte rasch auf die Unruhen und den Aufruf des Qa'ida-Chefs. Ein Ausgehverbot nach neun Uhr abends wurde über neun Provinzen des Landes verhängt. Der Innenminister sprach vor dem Parlament. Die Regierung hielt eine kollektive Pressekonferenz, an der mehrere Minister mitwirkten. Rachid Ghannouchi, der Gründer von "an-Nahda", Islamgelehrte und Vorsitzende der Partei, sprach am staatlichen Fernsehen, um den Angriff Zawahiris zurückzuweisen. Ghannouchi erklärte, er glaube nicht, dass es in Tunesien Qa'ida-Mitglieder gebe. Die Unruhen seien den Salafisten zuzuschreiben. Diese seien Extremisten. "Auch in unserer Partei hat es Extremisten gegeben". Mit der Zeit würden sie sich beruhigen.
Löschaktion von an-Nahda
Bei einer Medienkonferenz erklärte ein Sprecher des Innenministeriums, die Polizei könnte sich in der Zukunft gezwungen sehen, scharfe Munition einzusetzen, um Gewaltaktionen zu verhindern. Doch es gab auch Stimmen, wie jene des Religionsministers, die antönten, Provokationen - wenn es sich wirklich um solche handle - könnten gerichtlich verfolgt werden. Der Kulturminister sagte, er erachte die umstrittene Ausstellung ebenfalls als provokativ.
In Tunis laufen Prozesse, in denen sich Kulturschaffende und Journalisten wegen derartiger Provokationen, die in früheren Monaten Aufsehen erregten und Proteste hervorriefen, zu verantworten haben.
Streichhölzer in Heustock
Das Ganze ist wegen des Umfelds, in dem sich die Ereingisse abspielen, mehr als ein Sturm im Wasserglas. Die Tunesier sind in eine säkulare Minderheit und eine muslimische Mehrheit gespalten, wobei die Minderheit weitgehend aus Personen und Gruppen besteht, die finanziell, kulturell und publizistisch in weithin sichtbaren, führenden Positionen stehen. Bei der Mehrheit gibt es auch einige herausragende Köpfe, jedoch vor allem eine gewaltige Masse von einfachen Leuten und einen Grossteil der unterprivilegierten Unterschichten, welche die Revolution entscheidend mitgetragen haben, aber heute oft bitter enttäuscht darüber sind, dass sie ihnen keinerlei Verbesserung in ihrer oft grausamen Notlage brachte.
Innerhalb dieser gewaltigen Masse von islamisch Empfindenden aber zutiefst Enttäuschten wirken die Salafisten. In Tunesien erhielten sie, im Gegensatz zu Ägypten, keine Erlaubnis, eine Partei zu bilden. Sie sind daher auch nicht im Parlament vertreten. Ausgeschlossen wurden sie unter Berufung darauf, dass eine religiöse politische Agenda nicht in den Rahmen einer Demokratie passe. An-Nahda, die gegenwärtige Regierungspartei, will eine politische Partei sein, die Religion nur als den Wurzelgrund der moralischen Gesinnung ihrer Exponenten ansieht, nicht wie die Salafiya, als ihr politisches Programm.
Ein "arabischer und islamischer" Staat
Aus diesem Grund hat an-Nahda nach intensiven internen Diskussionen beim Entwurf der Präambel der in Arbeit befindlichen tunesischen Verfassung einer Version zugestimmt, die es vermeidet, die Schari'a als die Quelle der Gesetzgebung Tunesiens zu bezeichnen. Die Schari'a "zur Macht zu bringen" wäre das Hauptanliegen der Salafisten. Der Entwurf zur Präambel besagt jetzt nur, Tunesien sei ein arabischer und muslimischer Staat.
Im Gegensatz dazu steht in der von Mubarak erlassenen Verfassung Ägyptens, die Schari'a sei die "einzige Quelle der ägyptischen Gesetzgebung". Was jedoch nie eine praktische Bedeutung aufwies, weil die Schari'a so verzweigt und vielfältig ist, dass ein Fachmann alle denkbaren Gesetze von ihr ableiten kann. In seiner oben erwähnten Internetbotschaft bezog Zawahiri sich auf diese Präambel, indem er erklärte, an-Nahda weiche ab von den Grundprinzipien des Islams, indem die Partei sich weigere, die Schari'a in der Verfassung zu verankern.
Schari'a als "Geschenk Gottes"
Schari'a ist für Millionen von Muslimen ein positives Wort. Unter Berufung auf sie haben Jahrhunderte lang die muslimischen Gottesgelehrten versucht, dem despotischen Eigenwillen dermuslimischen Machthaber einige, elastisch gehandhabte, Grenzen zu setzen. Sie haben dadurch, soweit es ihnen gelang, das Volk vor dem Machthabern in Schutz genommen.
Dem Volk wird immer gesagt und gepredigt, die Schari'a beruhe auf dem Koran; sie sei daher "Gotteswort". Dabei ist "beruhen" ein zweideutiger Begriff. Genauer müsste man sagen, die Schari'a sei durch - fehlbare, wenngleich gelehrte - Menschen vom Koran abgeleitet sowie von anderen diesen ergänzenden Quellen. Ihre reiche Vielfältigkeit zeigt, dass die Ableitungen in sehr unterschiedlicher Art vorgenommen werden können.
Das grosse Ansehen der Schari'a
Das Prestige der Schari'a wird heute durch die Predigt erhöht, die aus Saudi Arabien kommt, wo viele ihrer Aktivisten ausgebildet worden sind und woher sie bedeutende Gelder erhalten. Es gibt Tunesier auf dem säkularen Flügel der Gesellschaft, welche die Überzeugung äussern, Saudi Arabien wolle das Demokratieprojekt Tunesiens zum Scheitern bringen, und benutze die Salafisten dazu, dies zu bewirken.
Es ist aber auch zu bedenken, dass die Lehre der Salafisten mit ihren einfachen Formeln wie: "Folgt dem Gottesgesetz" - (so wie wir es für euch auslegen) - "und alles muss gut werden. Gott hat es versprochen, und Er hält sein Wort!" auf Menschen und noch mehr auf Gruppen von Menschen einwirkt, die auf anderen Wegen als durch ein Wunder Gottes kaum eine Rettung aus ihrer bedrängten Lage erhoffen können.
Der konservative Flügel der Nahda
In Nahda selbst gibt es zweifellos einen bedeutenden Flügel von Mitgliedern, die einer derartigen Auffassung der Versprechen Gottes nahe stehen. Die Grenze zwischen ihnen und den Salafisten ist nur dadurch gegeben, dass die Gottesgelehrten, an welche die einen oder die anderen sich wenden, unterschiedlicher Meinung darüber sind, wie jene Tunesier, die als Säkularisten auftreten und manchmal Provokationen wagen, zu beurteilen seien: in erster Linie als ihre Meinungsfreiheit erprobende Mit-Tunesier oder primär als »Feinde Gottes«.
Die Gefahr für die Regierungspartei liegt in der beinahe unvermeidlichen Enttäuschung der grossen Massen von Menschen, die sich von der islamischen Demokratie eine sofortige Besserung ihrer Lage erhofft hatten. Sie sehen nun die Politiker zäh und zeitraubend miteinander diskutieren, was keine Arbeitsplätze schafft. Wem die Geduld reisst, der sieht sich versucht, den Salafisten Gehör zu schenken, wenn er zur muslimisch emfindenden Bevölkerungsmehrheit gehört, oder aber, wenn er sich den Säkularisten anschliesst, den Leuten der Regierungspartei vorzuwerfen, sie bediene sich der Salafisten, um Angst und Unruhe auszulösen und dadurch die Kritik an den fehlenden Leistungen der Regierung von sich abzulenken.
Bedrohung durch die Rezession
Es ist die Wirtschaftslage, die sich nun als die eigentliche Schicksalsfrage für die Islamische Demokratie erweist. Sie kann unmöglich sofort entscheidend verbessert werden. Doch wenn es der Regierung von an-Nahda nicht gelingt, mindestens das Gefühl aufrecht zu erhalten, dass Verbesserungen bevorstehen, droht ihr Kritik - und mit der Kritik Konkurrenz, sowohl vom rechten Flügel des politischen Spektrums mit den Salafisten wie auch von links von Seiten der Säkularen.
Dass beide Seiten gegen eine sie enttäuschende Regierung in erneuten Strassendemonstrationen zusammenfinden könnten, ist nicht auszuschliessen, solange Enttäuschung und Unzufriedenheit über die Lebensbedingungen der gossen Massen aller Tunesier andauern, ja immer noch weiter wachsen.