Um «Amok in Zeiten des Terrors» ging es am Sonntagabend in der ARD in einem «Hart aber fair»-Extra. Frank Plasbergs Talkshow beschäftigte sich mit der Amoktat von München, die unter dem Eindruck der jüngsten Terrorattacken zunächst als «Terrorlage» (so die Sprachregelung der Polizei) eingestuft war.
Die Talk-Runde war geschickt zusammengestellt. Mit dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann als einzigem Politiker waren am Tisch der zu Recht viel gelobte Münchener Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins, der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer, die Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger von der «Süddeutschen Zeitung» und Björn Staschen vom NDR. Dieser hatte in der Nacht des Anschlags die Reaktionen in den Sozialen Medien beobachtet und darüber berichtet.
Die als Label des Plasberg-Talks dienende Affiche «Hart aber fair» war für einmal kaum nötig. Unter dem Eindruck der schrecklichen und tragischen Ereignisse und des durch den Terror-Kontext ins Uferlose angewachsenen Widerhalls war es für alle Anwesenden selbstverständlich, sich auf die anstehenden Sachfragen zu konzentrieren: Früherkennung potentieller Amoktäter, Wirkung von Ego-Shooter-Spielen, illegaler Waffenhandel, Darknet, Polizeiarbeit bei Amok und Terror und deren Erschwerung durch massenhafte Fehlalarme sowie Gerüchte und Fälschungen im Netz.
Reichlich genug Stoff für eine Stunde Diskussion also! Plasberg gelang es sogar, das Gemenge zu strukturieren und den Gästen Gelegenheit zu einigen Klärungen zu geben. Allerdings fehlte der kritische Blick auf die Medien und insbesondere den veranstaltenden Sender selbst. Die ARD hatte am Freitagabend über die Ereignisse im Münchener Olympia-Einkaufszentrum «flächendeckend» berichtet, das heisst: Es wurden die immergleichen kaum lesbaren Videosequenzen wiederholt, und die sinnlos vor Ort postierten Reporter repetierten ihre jeweils um Nuancen variierten Nullaussagen. Diese Informationsleistung hätte eine kritische Betrachtung genauso verdient wie die wilde Gerüchteküche der Sozialen Medien.
Mit der wohl als authentische Stimme gedachten Zuschaltung Barbara Nalepas lieferte der ansonsten untadelige Frank Plasberg nun aber ein problematisches Beispiel für die Realitätssucht seines Mediums. Frau Nalepa hat durch die neun Jahre zurückliegende Amoktat in der Albertville-Schule von Winnenden ihre damals sechzehnjährige Tochter Nicole verloren. Für die Fernsehmacher schien wohl klar: ähnliche Taten, vergleichbare Schicksale – also befragt man eine Winnenden-Betroffene, um eine Vorstellung zu vermitteln, was Angehörige der jetzt Getöteten erleben und noch durchmachen werden.
Frau Nalepa wurde also in die live-Sendung zugeschaltet und – wie bei solchen Video-Zuspielen üblich – gross ins Bild gesetzt, mit bebender Stimme und nassen Augen. Sie mutete sich diesen Auftritt wohl deshalb zu, weil sie sich zusammen mit anderen Betroffenen des Winnenden-Massakers seither für schärfere Waffengesetze und Internetkontrollen engagiert. Plasberg befragte sie jedoch nicht primär als Exponentin dieser Initiative, sondern als Betroffene. Er liess sie berichten, dass sie seit der Tötung Nicoles keinen unbeschwerten Tag erlebt und keine Nacht durchgeschlafen habe.
Da merkte man schon, wie es Plasberg unwohl wurde. Die Frau, die er live und bildfüllend auf Sendung hatte, war in ihrem Schmerz nicht moderierbar. Vielmehr steigerte sie sich zur Voraussage, die Angehörigen der im Olympia-Einkaufszentrum Erschossenen würden nie mehr ein normales Leben führen können. Offensichtlich war sie in der live-Situation auch nicht in der Lage, die – Christian Pfeiffer konnte es in der Sendung dann richtigstellen – wichtigen Impulse der Winnenden-Initiative zutreffend zu formulieren.
Eigentlich ist es unter Fernsehprofis bekannt: Emotional aufgewühlte, nicht medienerfahrene Personen sind in Live-Situationen meist überfordert, vor allem dann, wenn sie mehr als in ein paar Worten ihre aktuelle Befindlichkeit ausdrücken müssten. Durch die technische Barriere der Videoübertragung hatte Plasberg erst recht keine Chance, das Gespräch mit Frau Nalepa in zielgerichteten Bahnen zu lenken. Es entgleiste total.
Eine Betroffene auftreten zu lassen, ist in der Logik der Medienkonkurrenz offensichtlich ein Asset, das man sich nicht entgehen lässt. Im Close-up mit Tränen und mühsam kontrollierter Stimme ist es nur um so besser. Die ebenfalls unumstössliche Logik des rationellen Mitteleinsatzes führte bei der ARD dazu, dass Frau Nalepa, da man sie ja ohnehin mit einem TV-Team in Winnenden besucht hatte, auch in der anschliessenden Tagesschau einen ausführlichen Auftritt bekam.
Die mehrere Minuten lange Zuschaltung einer aufs äusserste aufgewühlten Person in eine Live-Talkshow und der hilflos danebenstehende Moderator waren ein Tiefpunkt für die sich ihrer öffentlichrechtlichen Verantwortung rühmende ARD.