„Almost There“ ist ein essayistischer Dokumentarfilm mit fiktionalen Elementen mit drei Männern unterschiedlichster Herkunft. Alle jenseits der sechzig, sind sie sich der Endlichkeit des Seins sehr wohl bewusst. Was sie eint, ist der sehnsuchtsvolle Optimismus, nochmals – oder endlich – etwas zu wagen, ein Ziel anzupeilen, das ihrem Dasein Sinn und Kraft verleiht.
Permanent Vacation oder neue Ziele?
Eigentlich wollte die Zürcher Filmschaffende Jacqueline Zünd die spanische Feriendestination Benidorm an der Costa Blanca – salopp gesagt ein Ballermann für Senioren – porträtieren. Dorthin reisen viele, um der Angst vor dem Altern, der drohenden Vereinsamung zu entfliehen. Etliche bleiben für immer: Wenn daheim keine berufliche Herausforderung mehr lockt und niemand mehr auf einen wartet. Nach ausgiebigen Recherchen mit vielen Gesprächen im geriatrischen „Permanent-Vacation“-Schmelztiegel hat sich Jacqueline Zünd aber entschlossen, ihr Projekt neu anzudenken, es quasi auszuweiten.
Eine Initialzündung dafür war die Begegnung mit dem britischen Travestie-Comedian Steve, einer spannenden Persönlichkeit. Er steht für Zünds Nachfolge-Idee, Überlebenskünstler im reifen Alter zu finden, die bereit waren, über ihre optimistischen Pläne Auskunft zu geben. Zwei beleben nun neben Steve das Filmbijou „Almost There“: der Amerikaner Bob und der Japaner Yamada.
Herr Yamada aus Tokyo, eine elegante Erscheinung, war jahrzehntelang Geschäftsmann und quasi mit der Firma verheiratet. Als Pensionär suchte er Hobbys – mindestens zwölf müssten es sein, verrät er –, die ihn bei Laune halten sollten. Um schmerzlich zu erkennen, dass auch er zum sprichwörtlich „feuchten Laub“ zu werden drohte, zum Mann, der zuhause nutzlos an den Schuhen der umsichtigen Ehefrau klebt. „Ich habe nichts, auf das ich stolz sein könnte“, sagt Yamada. Doch dann berichtet er von seinem „Befreiungsschlag“: Der Manager ausser Diensten beginnt eine ambitionierte Rezitator-Ausbildung. Und liest bald im Kindergarten Bilderbücher vor, erobert die Herzen der Kleinen: Etwas, das er bei seinem Nachwuchs einst verpasst hatte.
Der zweite im Bunde, der Bob, ist so etwas wie ein „Loner“, ein geselliger Einzelgänger. Und dazu ein „Snowbird“, wie es in Nordamerika heisst. Jemand also, den es von der Kälte in die Wärme zieht. Zum Beispiel per Camper. Auch in der Hoffnung, im Ruhestand dem Schicksal als Couchpotato vor dem Fernseher zu entrinnen, wollte er mit der Freundin losfahren. Doch kaum war das teure Fahrzeug gekauft, ging die Beziehung in die Brüche. Nun gibt Bob im Sinne des Wortes alleine Gas, tuckert von Motels zum nächsten Rastplatz, durch kalifornische Wüsteneien, Bergzügen entlang, ans Meer. Und sagt, Leben bedeute, immer wieder die Angst zu besiegen.
Der dritte Glückssucher ist der eingangs erwähnte Steve. Von der Familie hat er sich längst getrennt, seine Karriere als Unterhalter in englischen Badeorten liegt hinter ihm. Nun bildet er mit zwei Hunden eine Wohngemeinschaft in einem Hochhaus in Benidorm. Tagsüber delektiert er sich am Stand vor der schmucklosen Beton-Skyline. Dann vertauscht er Badehose und Freizeitklamotten mit seinem mittlerweile sehr knapp sitzenden, langen roten Paillettenkleid, setzt eine Perücke auf, appliziert sehr viel Makeup und zieht High Heels an. Um in einem Nachtklub mit eindeutig zweideutigen Travestie-Comedy-Nummern der derberen Art den Umsatz anzukurbeln. Honi soit, qui mal y pense: Steve hat Klasse, irgendwie. Man schliesst ihn sofort ins Herz – ebenso wie Bob und Yamada.
Schräge Vögel
Jacqueline Zünd präsentiert schräge Vögel aus drei Kontinenten, unterschiedlichen Milieus und Kulturen. Und sie weiss mit ihnen umzugehen, sie zu führen. „Almost There“ ist eine raffinierte Melange aus dokumentarischen Impressionen, angereichert mit fiktionalen Elementen. Im Verbund führt das zu einer Wahrnehmung von Realität, die den Charakteren gerecht wird. Und die ohne eine vertrauensvolle Interaktion mit der Realisatorin nicht denkbar wäre.
Zünd hat Respekt vor ihren Protagonisten, die sich übrigens im Film nie begegnen, doch ideell etwas gemeinsam haben: Sie streben nach persönlicher Erneuerung, behalten aber ihre Identität – weil Zünd keinen Thesenfilm anstrebt, sondern ihren queren Helden viel Entfaltungsraum lässt, sie nicht in einen Raster zwängt. Man spürt, dass unter Bobs, Steves und Yamadas Lebensbrücke viel reissendes Wasser durchgeflossen ist, und so spiegelt der Film das lädierte Selbstbewusste ebenso wie die trotzige Verletzlichkeit und viel Melancholie.
Distanzierte Nähe, intime Distanz
Die 1971 in Zürich geborene Autorin mit ausserordentlicher Begabung absolvierte die Ringier Journalistenschule, besuchte die London Film School, war als Redaktorin für das Schweizer Fernsehen tätig. Seit 1998 ist sie selbständige Regiefrau und Skriptautorin. In ihrem zweiten langen Film „Almost There“ zeigt sich ihre Fähigkeit, komplexe Lebens-Chroniken ohne Geschwätzigkeit schlüssig zu vermitteln. Und deren Energie, Eigenheiten und Marotten plausibel zu verbildlichen. Ganz ohne effekthascherischen Voyeurismus.
Zünd, eine sensible Beobachterin, hat das Gespür für die Balance zwischen distanzierter Nähe und intimer Distanz. Ihre Protagonisten, denen das Selbstdarstellerische offenkundig nicht fremd ist, und einige Nebenfiguren treten gelassen, unverkrampft, mit offenem Blick vor die Kamera – ob sie nun für eine Totale posieren, ihre Gedanken äussern oder kurze, illustrierende Texte vorlesen (diese stammen aus der Feder der Schriftstellerin Sibylle Berg).
Exzellente Kamera, sinn-animierender Sound
Für die Exzellenz der Kameraarbeit ist der Deutsche Nikolai von Graevenitz verantwortlich, dem treffliche Einstellungen eingefallen sind. Und immer wieder gibt es überraschende Übergänge. Wie dort, wo ein Sternschnuppenregen am kalifornischen Nachthimmel in ein Meer von weissen Golfbällen auf dem Green einer gigantischen Driving-Range in Tokyo übergeht; ein ganz starkes metaphorisches Tableau.
Sinn-animierend ist die Tonspur, mit sparsam eingesetzter, fast sphärischer Instrumentalmusik des gefragten US-Komponisten, Songwriters und Produzenten Max Avery Lichtenstein. Im Einklang mit Natur- und Verkehrsgeräuschen entsteht ein diskreter Sound, der ideal zur getragenen Szenen-Struktur passt, von feinem, ironischen Schalk, ja anrührender Zärtlichkeit umflort.
Filmessay von universeller Strahlkraft
Nach dem Spielfilm „Die Göttliche Ordnung“ von Petra Volpe und der Dokumentation „Unerhört Jenisch“ von Martina Rieder und Karoline Arn liefert Jacqueline Zünd übrigens einen weiteren Beweis dafür, dass im aktuellen Schweizer Filmschaffen Frauen eine starke Stimme haben.
„Almost There“ ist ein empathisches Filmessay von universeller Strahlkraft. Narrativ, dramaturgisch wie montagemässig überzeugend wirkt es wie eine Perlenkette mit unsentimentalen, emotionalen Momentaufnahmen über das Allzumenschliche im Menschlichen. Wer Musse hat, wird da und dort Seelenverwandtschaftliches ergründen.
„Almost There“ feiert am 3. September in Zürich (Kino Riffraff) und Basel (kult.kino) Vorpremiere. Kinostart am 7. September.