Vor 100 Jahren ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen: der Krieg, der dem Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts eine jähes Ende setzte und den Kontinent Europa für immer verändern sollte. Kein Wunder, dass dieser Krieg und die Umstände, die ihn herbeiführten, gegenwärtig im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen.
Konzentrierter Blick
Als einer der Ersten hatte der Kunsthistoriker und Publizist Florian Illies mit seinem Buch „1913“ den Blick auf den Vorabend der grossen Katastrophe gelenkt und die Aufbruchstimmung jener letzten Friedensmonate auf höchst originelle und eindrückliche Weise dargestellt. Das Buch stand monatelang auf den deutschen Bestsellerlisten. Es war anregend zu lesen, und es war lehrreich, denn erst der konzentrierte Blick auf dieses eine Jahr machte so richtig deutlich, wie stark Kunst und Kultur bis heute von den kreativen Impulsen jener kurzen Vorkriegsepoche geprägt sind.
Nun, da sich der Kriegsbeginn zum hundertsten Mal jährt, ist die Flut an Publikationen und Ausstellungen kaum mehr zu überblicken. Im Landesmuseum lädt die grossangelegte Schau „Expedition ins Glück. 1900 – 1914“ zum Gang durch die von Aufbruchstimmung wie von düsteren Vorahnungen gleicherweise durchdrungene Vorkriegsezeit ein. Im Kunsthaus Zürich zeigt die Ausstellung „Von Matisse zum Blauen Reiter. Expressionismus in Deutschland und Frankreich“, wie fruchtbar der künstlerische Austausch über die Grenzen der Länder und Nationen hinweg war und wie tragisch der Bruch, der diesem Miteinander ein Ende bereitete. Und im Zentrum Paul Klee schliesslich nimmt eine exquisite Auswahl von Aquarellen und Zeichnungen die Besucher mit auf jene legendäre Tunisreise, die das Künstler-Trio Klee, Macke und Moilliet im Frühling 1914 zusammen unternommen hatte.
Künstlerisches Erweckungserlebnis
Ähnlich wie im Kunsthaus Zürich lässt sich auch im Berner Klee-Museum beobachten, wie das, was wir „Moderne“ nennen, am Vorabend des Ersten Weltkriegs seinen Anfang nahm. Als die drei Künstlerfreunde Klee, Macke und Moilliet sich am 6. April 1914 in Marseille einschifften, um gemeinsam durch Tunesien zu reisen, konnten sie nicht ahnen, dass ihnen die Reise zum künstlerischen Erweckungserlebnis werden würde. Sie ahnten aber auch nicht, wie kurz die Frist bemessen war, die manchen Künstlern zu diesem Zeitpunkt noch vergönnt sein sollte. Bereits am 29. September des ersten Kriegsjahres ist August Macke in Frankreich gefallen.
Umso eindrücklicher ist es, die im nachhinein wie ein gnädiger Aufschub anmutende Reise in den schönen Räumen des Klee-Zentrums in Bern noch einmal mit eigenen Augen nachvollziehen zu können. Der Ausstellungskurator Michael Baumgartner hat sie so in Szene gesetzt, dass etwas von der Helligkeit des Mittelmeeres, der Strenge der Wüste und dem Farbenrausch der orientalischen Märkte allgegenwärtig ist. Und auch von der Hitze, die Schattenspiele auf den weissen Wänden andeutungsweise spürbar machen.
Unverwechselbarkeit
Klee, Macke und Moilliet haben sich dem Reiz des Orients in vollen Zügen hingegeben und jeder in seiner Art und seinem Stil auf dessen Farb- und Formensprache reagiert. Beim Gang durch die Ausstellung ist deutlich zu erkennen, dass sie zusammen gereist sind und in Tunis und St.Germain, in Sidi Bou Said, in Hammamet und Kairuan die gleichen Sujets gesehen und oft auch die gleichen Sujets gemalt haben. Sie haben sich ausgetauscht, sie haben sich gegenseitig beeinflusst, gegenseitig befruchtet – und sind doch ein jeder für sich unverwechselbar geblieben.
Alle drei hatten sie sich schon vor Antritt der Reise auf der Suche nach dem Neuen befunden: weg vom Gegenstand und hin zur reinen Farbe, zur Abstraktion. Die Begegnung mit arabischer Architektur und Ornamentik, aber auch mit dem Licht, das der Form ihre Schärfe und der Farbe ihre Leuchtkraft verleiht, hatte dann in kürzester Zeit den Durchbruch gebracht. Die berühmte Aussage von Paul Klee – „Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiss das. Das ist der glücklichen Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler“ –, sie trifft nicht nur auf ihn selbst, sie trifft ebenso auch auf Macke und Moilliet zu. Auch wenn die beiden bis zuletzt gegenständlicher blieben als Klee und ihr Interesse an Markt- und Strassenszenen nie ganz aufgaben, so lässt sich doch auch in ihrem Schaffen beobachten, wie das Figürliche immer mehr in den Hintergrund tritt und dem reinen Spiel von Farben und Formen das Feld überlässt.
Kurze, glückliche Reise
Vor allem Klee war von den Sinneseindrücken der Reise dermassen überflutet, dass er nach nur zwei Wochen vorzeitig abreiste. Die andern beiden blieben noch bis Ende April. Und doch war es Klee, der sich auch später noch immer intensiv mit den Eindrücken der Reise auseinandersetzte. Bis weit in die zwanziger Jahre hinein sind in seinem Werk Spuren der Tunisreise auszumachen – und in der Berner Ausstellung auch wiederzuentdecken. Moilliet, obwohl als Einziger noch öfter in der Region unterwegs, wandte sich bald anderen Bereichen der Kunst zu, und wie Macke, wäre er am Leben geblieben, sich weiterentwickelt hätte, ist leider müssig zu fragen. Geblieben ist die künstlerische Ausbeute einer kurzen, glücklichen Reise, geblieben ist der Ertrag des schöpferischen Austausches dreier Künstlerfreunde, der in seiner Intensität bis heute exemplarisch geblieben ist.
Es ist dem Zentrum Paul Klee hoch anzurechnen, dass es rund 140 mit der legendären Tunisreise in Zusammenhang stehende Arbeiten aus nicht weniger als 65 amerikanischen und europäischen Museen und Privatsammlungen zusammengetragen und damit die Geburtsstunde der modernen Aquarellmalerei in einen für jedermann nachvollziehbaren kunst- und zeitgeschichtlichen Kontext gestellt hat.
Die Tunisreise – Klee, Macke, Moilliet. Zentrum Paul Klee, Bern, bis 22. Juni
Expedition ins Glück. 1900 – 1914. Schweizerisches Landesmuseum, Zürich, bis 13. Juli
Von Matisse zum Blauen Reiter. Expressionismus in Deutschland und Frankreich. Kunsthaus Zürich, bis 11. Mai.