Nicht alle Musikfreunde zählen Wagners Walküren zu den attraktivsten unter heldisch singenden Frauen.
Walküren sind furchteinflössende weibliche Wesen aus der germanischen Mythologie, welche auf den Schlachtfeldern die sterbenden Helden einsammeln, um diese nach Walhall zu geleiten, zu jener Halle, wo Kampfesheroen den dort hausenden Göttern begegnen dürfen. Richard Wagner hat in seinem Musikdrama «Der Ring des Nibelungen» (Uraufführung der gesamten Tetralogie im Bayreuther Festspielhaus 1876) diesen durch Himmel und Gewitter auf wilden Pferden reitenden Frauen mit den toten Männern im Sattel ein eindrückliches Denkmal gesetzt.
Diese Frauen, neun an der Zahl, von göttlicher Abstammung, gezeugt in wilden Ehen vom obersten Gott im germanischen Himmel mit den Gespielinnen seiner Liebeslust, sind eine seltsame Mischung von Furien und Amazonen, die Wagner auch mit von ihm selbst erfundenen Namen, insbesondere jedoch mit einer Musik ausgestattet hat, die sowohl von Waffenlärm, Pferdegetrampel und Sturmeswinden geradezu durchpeitscht ist. Ihr «Hojotoho-Geschrei» und ihr «Heiaha-Gebrüll», ob solistisch oder chorisch, ist nichts für Ohren, die das verführerisch Zarte in weiblichen Stimmen suchen. Es sind halt junge Frauen, die mit Schlachten, Schildern, Speeren, sturmerprobten Rössern und gefallenen Kriegshaudegen berufsbedingt vertrauten Umgang haben. Man wird in solcher Umgebung weder sanft noch weich.
Zwei Halbschwestern
Die individuell Herausragenden unter den Walküren sind Brünnhilde und Waltraute. Die erste: Wotans Lieblingstochter, gezeugt mit Urmutter Erda, ihm so vertraut und herzensnah, dass sie Wotans Willen zu erkennen und deuten zu dürfen glaubt. Sie ist das Wunschkind Wotans unter den Göttinnen Walhalls und in «Die Walküre», «Siegried» und «Götterdämmerung» die zentrale weibliche Figur, die zwar ihre Göttlichkeit verliert, um im Verlauf der Geschehnisse die grosse Liebende zu werden: die Geliebte jenes Siegfried, der sich als der einzig Freie erweist im Gegensatz zu den durch ihre Ehen, Verträge und Gesetze gebundenen Götter.
Waltraute dagegen, auch eine Tochter Wotans, aber von einer anderen Frau, hat in Wagners Weltuntergangsdrama nur eine Szene, die ihr ein individuelles Gestaltprofil verleiht. Es ist dies die 3. Szene des 1. Aktes von «Götterdämmerung», in welcher sie die aus Walhall verstossene Brünnhilde in ihrer Felsenhöhle aufsucht. Waltraute macht sich zur Sprecherin ihrer weiblichen Geschwisterschar, die zusehen muss, wie Walhalls oberster Gott in Tatenlosigkeit und Resignation verfällt und dabei Gefahr läuft, der Weltherrschaft verlustig zu gehen.
Siegfried, den der Tatendrang eines Eroberers anstachelt, hat sich aufgemacht und ist an den Rhein gezogen, wo er zum Werkzeug eines ungeheuerlichen Betrugs und Verrats des Nibelungensohnes Hagen wird. Seine Braut hat er in der Felsenhöhle zurückgelassen, allerdings mit einem Liebespfand: dem goldenen Ring, Symbol jener Weltherrschaft, die dem Besitzer des Rings zusteht.
Waltrautes Aktion
Was Waltraute von Brünnhilde wünscht und verlangt, ist allerdings nichts Geringes. Waltraute berichtet, dass Wotan, seit er seine Lieblingstochter verstossen habe, ohne Rast und Ruh als Wanderer die Welt durchschweife. Kürzlich sei er mit den Splittern seines Speeres – Symbol des an Verträge gebundenen Gottes – nach Walhall zurückgekehrt. Ein Held (Siegfried) habe mit seinem Schwert den Speer in Stücke gehauen. Wotan habe auch die Welt-Esche fällen und deren Scheite rings um Walhall aufschichten lassen. Er weigere sich zudem, Holdas Äpfel der sich ewig erneuernden Jugend anzurühren.
Wotan raunt darauf der besorgten Waltraute zu, die sich an seine Brust drängt, das zu tun, was diese jetzt ihrer Schwester zumutet: «Des tiefen Rheines Töchtern / gäbe den Ring sie wieder zurück, / von des Fluches Last / erlöst wär’ Gott und Welt!». Da ist Waltraute aber an die Falsche geraten! Ob sie wohl von Sinnen sei? Auf Siegfrieds Liebespfand soll sie verzichten? Nie und nimmer! Denn selig leuchte aus diesem Ring ihr Siegfrieds Liebe entgegen.
Waltraute soll zum Rat der Götter nach Walhall zurückkehren und ihnen folgende Botschaft überbringen: «Die Liebe liesse ich nie, / mir nehmen sie nie die Liebe – / stürzt’ auch in Trümmern / Walhalls strahlende Pracht.» Mit einem mehrfach wiederholten «Wehe! Wehe» – wehe der Schwester und wehe Wallhalls Göttern – stürzt sie davon, «wie zu Ross» heisst es in Wagners Regieanweisungen.
Familiendrama pur
In Wagners Tetralogie gibt es zahlreiche Szenen, die uns berühren wegen der rätselhaften Verbindung innig werbender Zuneigung mit wachsendem Drama in stürmisch sich austobender Melodik. Zu den grossen Momenten sich zuspitzender Erwartung, sich steigernden Entsetzens und in Aussichtslosigkeit endenden Wehe-Rufen gehört mit Sicherheit dieser Auftritt von zwei einander unvereinbar zugetanen Schwestern
Wir haben es mit zwei wunderbaren, letztlich wohl seelenverwandten Frauen zu tun, die entschieden für ihre je eigene Ansicht von Glück und Zukunft kämpfen. Waltraute will die Familie retten, Brünnhilde ihr persönliches Glück. Ihr Ausschluss aus der Familie der Götter hat sie dank Siegfrieds Liebe «zur Seligsten» geschaffen, denn «in seiner Liebe / leucht und lach ich heute auf!». Am Ende, nach Siegfrieds Tod, wird auch Brünnhilde einsichtig werden, opfert ihre Macht und sich selbst. Sie gibt den Ring den Rheintöchtern zurück. Das Spiel um Macht und Liebe zwischen Lichtalben und Nachtalben ist aus. Oder darf neu beginnen.
«Die» Waltraute des 20. Jahrhunderts
Christa Ludwig, die 1928 in Berlin geborene Mezzosopranistin, gehört zu den am höchsten gefeierten Opern- und Konzertsängerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie war eine grossartige Liedinterpretin ebenso wie eine ergreifende Gestalterin von Kirchenmusik. Vor allem aber hat sie eine beeindruckende Anzahl von Opernfiguren von der Barockzeit bis zur Moderne geradezu vorbildhaft gestaltet, die heute zum Glück in zahlreichen Ton- und Bildaufnahmen dokumentiert sind. Zu diesen gehören – neben Mozart, Beethoven, Richard Strauss und Bernstein – nicht zuletzt die Frauenfiguren aus der Opernwelt von Richard Wagner. Sie war eine grossartige Venus, Ortrud, Brangäne, Fricka, Kundry. Am vergangenen 24. April starb sie 93-jährig in Klosterneuburg bei Wien.
Wenn es aber um die Waltraute aus «Götterdämmerung» geht, kommt niemand ihrem Ruhm und ihrer Kunst auch nur vergleichbar nahe. Sie war die Waltraute im Jahr 1964, als Georg Solti in Wien für Decca die erste Gesamteinspielung vom «Ring des Nibelungen» mit Birgit Nilson als Brünnhilde realisierte. Als Karajan 1969 für die Deutsche Grammophon in Berlin seinen Ring aufnahm, holte auch er Christa Ludwig als Waltraute – mit Helga Dernesch als Brünnhilde – ins Künstlerteam. Und – als gebe es auf der ganzen Welt noch immer nirgends eine bessere Lösung – erarbeitete auch James Levine an der Met bei Otto Schenks Ringproduktion von 1990 die Rolle der Waltraute mit ihr zusammen, neben der ebenso hinreissenden Brünnhilde von Hildegard Behrens.
Diese gefilmte Produktion der Met ist hier ausgewählt. Christa Ludwig war damals 62 Jahre alt. Mit einer Stimme so unverbraucht, einschmeichelnd und glühend wie in ihren Jugendjahren. Die eigenartige Wärme ihrer Stimme, wo sie mit ihr für ihre Anliegen wirbt oder mit ihr verzweifelt, weil diese ausgeschlagen werden, gehört zu den schönsten Geschenken, die eine Sängerin uns Zeitgenossen gemacht hat.