Ausgangspunkt unserer Traumreise nach Brasilien und Argentinien war die Familiengeschichte meiner Frau. Ein Teil ihrer Vorfahren wanderte Anfang des 19. Jahrhunderts nach Brasilien aus. Im Rahmen einer solch weiten Reise kamen beim Schreibenden als «Geopolitiker» zudem Tourismus aber auch politische Erkenntnisse nicht zu kurz.
Nach den napoleonischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte in ländlichen Gebieten der Schweiz grosse Armut. Viele versuchten, dieser durch Auswanderung zu entkommen. Unter diesen befand sich auch eine Gruppe von rund 2000 Bauern, die mehrheitlich aus dem Gruyère stammten und in die damals portugiesische Kolonie Brasilien auswanderten. Sie wurden von der Obrigkeit im Kanton Freiburg/Fribourg, die soziale Unruhen befürchteten, lebhaft unterstützt. Sie erhielten vom damaligen portugiesischen Monarchen freies Geleit. Sie waren die ersten nicht-portugiesischen Europäer, die sich in einem Gebiet niederliessen, das trotz Ureinwohnern als «terra nullius» galt – als Land, das niemandem gehörte und das damit von den Kolonialherren frei vergeben werden konnte.
Damals und heute
Ihre beschwerliche Reise, ihre mühsame Arbeit, um den vulkanischen Berghängen im Hinterland von Rio de Janeiro eine karge Existenz abzuringen und ihr Aufstieg zu einem gewissen Reichtum durch den Einsatz von Sklaven sind erst in den letzten Jahren aufgezeichnet worden. Erst 1888 wurde in Brasilien als letzter Nation der westlichen Hemisphäre formell die Sklaverei abgeschafft. Durch harte Arbeit und Fleiss gründeten sie ihren neuen Wohnort, den sie «Nova Friburgo» nannten, eine Stadt, die heute etwa 200’000 Einwohner zählt.
200 Jahre nach ihrer Ankunft wurden wir anlässlich eines Jubiläums des lokalen Schweizer Clubs von zwei Dutzend Mitglieder des Thurler-Clans königlich empfangen, umarmt und geküsst. Für sie waren wir «Cousins aus der alten Heimat». Der Name «Thurler» bezieht sich auf den schweizerischen Namen «Thürler» – der Familienname meiner Frau.
Die dortigen Thurlers sind natürlich Brasilianer durch und durch, aber sie pflegen ihre europäische Herkunft in Form einer «Casa Suiza» mit kleinen Käse- und Schokoladenmanufakturen und einem Museum mit Zeugnissen der Migration ihrer Vorfahren.
Nicht nur Fribourger
Unter den auswandernden Familien fanden sich, neben dem Hauptharst aus Fribourg, auch Bauern aus dem Hinterland von Luzern – so etwa die Hunkeler und die Marfurt. Dabei waren auch Auswanderer aus Solothurn (unter anderen die Jecker und Gottstein) und aus dem Aargau (darunter die Leimgruber und Steinegger). Im vergnüglichen, leicht lesbaren Comics-Heft «....Et les Suisses arrivèrent», herausgegeben 2004 vom Schulmaterialverlag des Kantons Fribourg, finden sich die vollständigen Namenslisten der Auswanderer.
Eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung dieses Exodus spielt der heute 84-jährige Marcel Schuwey. Mit ungebrochenem Elan pendelt er zwischen Nova Friburgo und Marly (FR). Die Schuwey, wie auch die Thürler stammten ursprünglich aus dem deutschsprechenden Jaun. Aber schon im 18. Jahrhundert zogen beide ins französisch sprechende Gruyère. Auch sie fanden sich unter den 2000 frühen Auswanderern nach Brasilien.
Marcel Schuwey spricht Französisch, Deutsch und Portugiesisch. Er hatte entscheidenden Anteil an unserem perfekt organisierten Ausflug in die Familiengeschichte meiner Frau.
Samba und Tango
Bei einer so weiten Reise, dazu noch während der Fasnachtszeit, durfte auch ein Besuch des Karnevals in Rio nicht fehlen. Natürlich kennt man die Bilder vom Fernsehen her, aber ein Besuch im 90’000 Zuschauer fassenden «Sambadrom», einem rund einen Kilometer langen Stadion, bleibt ein einmaliges Erlebnis. Auf Stehplätzen, weit weg von den sehr teuren Logen für Touristen und damit umgeben von mitsingenden und -tanzenden «Brasilieros», verfolgten wir, eingehüllt in eine Orgie von Farbe und Ton und mit grösstem Vergnügen die stundenlange Parade der Sambaschulen: eine unglaubliche Pracht, die Umzugswagen sind teils 5-stöckig, dazwischen leicht bekleidete Tänzerinnen und Tänzer, dazu uniform kostümierte Samba-Musikgesellschaften. All das bietet ein völlig einmaliges Spektakel. Während des siebentägigen Karnevals zirkulieren zudem ständig Sambawagen mit ohrenbetäubendem Lärm in der Stadt, wobei auch die sonst viel befahrene Hauptstrasse entlang der Copacabana gesperrt wird, um allen die Gelegenheit zu geben, sich in die Conga-Schlangen einzureihen. Frappierend, wie dies alle tun, auch ältere und vollschlanke Semester hochsommerlich nur mit String-Bikinis oder Badehose bekleidet.
Was in Brasilien der Samba ist, ist in Argentinien der Tango. Ein Abend in der Mutter aller Tango-Restaurants in Buenos Aires, dem «EI Querandi» ist wiederum ein ganz spezielles Erlebnis. Die manchmal rasenden dann wieder schleppenden Tanzschritte, mit denen sich die vier Beine eines professionellen Tangopaares auf der Bühne untrennbar zu verflechten erscheinen, um im nächsten Moment leicht wippenden auf Distanz zu gehen, lässt sprachlos, ob dieser hohen Kunst des argentinischen Nationalreigens.
Wirtschaft und Diktatur
Offensichtlich ist aber nicht alles «Song and Dance» in den zwei riesigen Nachbarländern. In beiden herrschen schlimme wirtschaftliche Zustände. In Brasilien bedingt primär durch das Bevölkerungswachstum, mit welchem die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Sozialausgaben nicht Schritt halten; in Argentinien wegen der galoppierenden Inflation von rund 250%. Dass letztere sogar zu Unterernährung führen kann, haben wir direkt erlebt: Beim Essen einer typisch üppigen Mahlzeit auf einer Restaurantterrasse in einem Mittelklasse-Viertel von Buenos Aires wurden wir von zwei korrekt gekleideten Jugendlichen angesprochen. Sie waren wohl auf dem Weg zur Schule und fragten höflich, ob sie die übrig gebliebenen «Empanadas» auf unseren Tellern mitnehmen könnten.
Hier soll aber nicht von allgemein bekannter Wirtschaftsnot die Rede sein, sondern von einem gemeinsamen Kapitel in der Gegenwartsgeschichte der beiden Ländern, das manchmai vergessen wird: Sie teilen ein bitteres Kapitel von Militärdiktatur, Brasilien von 1964-85 und Argentinien von 1976-83. In beiden Ländern halten sich deren Schatten.
Der Fall «Argentinien»
Im letzteren Fall wird diese besonders unheimliche Abweichung von der Demokratie und Rechtsstaat im ESMA-Museum und Erinnerungsort anschaulich dokumentiert, ein Muss für jeden Reisenden nach Buenos Aires. Auch hier unfassbar, aber im Schlimmen. Dokumentiert wird etwa, dass die rechtsextremen Putschgeneräle damals ihre politischen Gegner nicht nur verhafteten und in ihrer eigenen Offizierskaserne (!) folterten, sondern sie nachher mit einem Betonklotz beschwert, halb betäubt aber noch lebend über dem offenen Meer aus einem Militärtransporter «entsorgen» liessen. Im ESMA ist den «Madres de Plaza de Mayo» ein ganzes Gebäude gewidmet. Ohne sie, die sich während der Diktatur jeden Abend auf dem Hauptplatz von Buenos Aires, vor dem argentinischen «Weissen Haus», der «Casa Rosada», versammelten und ultimativ nach Nachrichten ihrer verschwundenen Söhne und Töchter verlangten, hätte das Militär, trotz der damaligen Demütigung durch die verheerende Niederlage im Falklands/Malvinas-Krieg, wohl nicht abgedankt.
Seither haben zwar gewisse Prozesse gegen Putschisten und Folterer stattgefunden, bewältigt ist diese Vergangenheit aber noch nicht. Sie wird vielmehr wieder lebendig, da Javier Milei, der neue «Präsident mit der Kettensäge» gedroht hat, das ESMA zu schliessen. Offiziell, weil dafür keine Staatsmittel mehr vorhanden sind. Einem meiner Kontakte vor Ort zufolge könnte Milei allerdings lediglich auf einen eventuellen Sieg Trumps bei den Gringos im Norden warten, was den diktatorischen Trend in den Amerikas gewaltig verstärken würde. Ein solches Einschleimen beim unbelehrbaren Teil der Militärkaste würde ihm zupass kommen, da er auf demokratischem Weg mit seiner verschwindenden kleinen Minderheit im Parlament seine teils notwendigen, teils völlig verrückten und unsozialen Vorschläge zur wirtschaftlichen Gesundung nicht umsetzen kann.
Der «Fast-Putsch» in Brasilien
Wie erst jetzt durch offizielle Dokumente aktenkundig wird, spielte die Administration von Präsident Biden beim Amtsübergang des Trump-Verehrers Jair Bolsonaro an den zum dritten Mal zum Präsidenten gewählten Sozialdemokraten Lula eine wichtige Rolle. Die Regierung Biden hielt das brasilianische Militär davon ab, Bolsonaros Putsch im Januar 2023 zu unterstützen. Bolsonaros Anhänger und Teile der Polizei und der Armee hatten damals das Regierungsgebäude in der Hauptstadt Brasilia angegriffen. Der Putschversuch erinnerte an den Sturm auf das Washingtoner Kapitol am 6. Januar 2021.
Eine hypothetische Regierung Trump in Washington hätte bestenfalls die Hände in den Schoss gelegt.