Die Stadt Falludscha, oder was noch von ihr übrig ist, scheint nun kurz davor zu sein, aus den Fängen des IS befreit zu werden. Die irakischen Armeesprecher meldeten, sie seien in Besitz des Stadtzentrums mit dem Stadthaus. Der irakische Ministerpräsident, Haidar al-Abadi, bestätigte dies und erklärte, nur einige Aussenquartiere blieben noch zu reinigen, und in wenigen Stunden werde dies abgeschlossen sein. Ein General erklärte, die IS-Kämpfer befänden sich auf der Flucht. Ihre Führung habe den Kontakt mit ihnen verloren.
Falludscha, nur etwa 75 Kilometer von Bagdad entfernt, war schon im Januar 2014, noch vor Mosul, dem IS zugefallen, anfänglich mit Hilfe der lokalen sunnitischen Stämme. Zur Zeit der amerikanischen Besetzung musste die Stadt zweimal von Aufständischen gesäubert werden, die sich gegen die Amerikaner erhoben hatten.
Langwierige Kämpfe
Falludscha wurde damals weitgehend zerstört und galt seither als ein Zentrum des Widerstands gegen den amerikanischen Imperialismus. Nach ihrer Einnahme durch den IS wurde die Stadt mit einst 300’000 Bewohnern mehrmals von Regierungstruppen belagert, konnte aber nie eingenommen werden. Die letzte Belagerung, die nun erfolgreich verlaufen ist, hatte vor vier Wochen begonnen.
Die irakischen Elitetruppen in der Vorfront waren zuerst auf erheblichen Widerstand in den Aussenquartieren der Stadt gestossen. Am Freitag gelang es ihnen, ins Zentrum vorzustossen. Nun versuchen sie, vom Zentrum aus die Aussenquartiere zu befreien, in denen noch Widerstand geleistet wird. Wie immer verwendeten die IS-Kämpfer Selbstmordanschläge mit Lastwagen und Automobilen, um Gegenangriffe durchzuführen.
Elend der Zivilbevölkerung
Während die Belagerung andauerte, suchten die IS-Terroristen die Zivilisten daran zu hindern, die Stadt zu verlassen. Dort hätten sie sechs Monate verbracht, ohne etwas zu essen, berichtete einer der Flüchtlinge, denen es dennoch gelang, aus der Stadt zu fliehen.
Erst in den letzten Stunden vor dem Durchbruch der Belagerer wurden die Sperren geöffnet, die den Zugang zu den beiden Euphratbrücken der Stadt blockierten. Das erlaubte einem Strom von Zivilisten, die Stadt zu verlassen. Zuvor war die Flucht lebensgefährlich gewesen.
Einzelne Gruppen hatten sie dennoch gewagt. Der einzige offene Fluchtweg führte durch Vorstadtgärten und über einen Kanal, der schwimmend oder mit improvisierten Booten überquert werden musste. Scharfschützen von IS waren postiert, um auf die fliehenden Zivilisten zu schiessen. Manche verloren ihr Leben.
Wenn sie die belagernden Truppen erreichten, war das Elend der Fliehenden noch nicht ausgestanden. Frauen und Kinder kamen sofort in Lager, wo der Norwegische Flüchtlingsrat so gut wie alleine versuchte, die nötigste Hilfe zu leisten; zu allererst mit Trinkwasser, und auch dieses war knapp. Doch die Männer und Jugendlichen ab 15 Jahren wurden ausgeschieden und in besondere Lager verbracht, um zu untersuchen, ob sich unter ihnen Infiltratoren von Seiten des IS befänden.
Sunniten in Händen der Schiiten
Es waren die schiitischen Milizen, denen diese Arbeit oblag. Diese Milizen waren unter den Angriffstruppen, die in die Stadt vordrangen, nicht vertreten. Gemäss einer vorausgegangenen Abmachung waren sie in der Etappe zurückgeblieben und hatten für Nachschub und Rückendeckung der Angriffstruppen gesorgt.
Dies war ausgehandelt worden, um zu vermeiden, dass die oftmals fanatischen schiitischen Milizen sich an den verbliebenen rund 50’000 sunnitischen Bewohnern von Falludscha vergehen würden. Bei früheren «Befreiungen» war es vorgekommen, dass die Milizen den «befreiten» sunnitischen Zivilisten vorwarfen, sie hätten mit dem IS unter einer Decke gesteckt und sie dementsprechend behandeten.
Diese Milizen sind es nun, denen es obliegt, unter den Flüchtlingen möglicherweise verborgene IS-Aktivisten zu suchen. Der Vorgang soll normalerweise, wenn keine Verdächtigungen vorliegen, eine Woche dauern. Während dieser Zeit wissen die Familien nicht, was mit ihren männlichen Angehörigen geschieht. Sie nehmen an, die als Freunde des IS eingestuften würden erschossen.
Ein bekannt gewordener Zwischenfall bewirkte, dass in der vergangenen Woche einer der Milizangehörigen 17 Personen aus einer Familie von 20, die sich über die Kampfeslinien hinweg zu retten suchte, erschoss. Dies sei ein Einzelfall gewesen, sagte eine Untersuchungsbehörde in Bagdad, und der Verantwortliche sei gefangengenommen und angeklagt. Doch es ist unvermeidlich, dass Gerüchte unter den Flüchtlingen umgehen, laut denen die Milizsoldaten sich nicht zurückhielten, an den sunnitischen Flüchtlingen Rache zu nehmen.
Gespaltene Stämme
Rechnungen wird es auch zu begleichen geben unter den sunnitischen Stämmen der Stadt und ihres Hinterlands in der westlichen Wüste. Manche der Stammesgruppen ergriffen Partei gegen den IS und wurden in den vergangenen Jahren massakriert. Andere blieben beim IS, sei es aus Überzeugung sei es gezwungenermassen. Sie werden sich nun zu rechtfertigen haben.
Die Behörden von Bagdad hoffen, dass mit dem Fall Falludschas die Bombenanschläge in der Hauptstadt abnehmen. Sie nehmen an, dass die nahegelegene Stadt in der Hand von IS als Ausgangspunkt und Organisationszentrum für die Selbstmordanschläge gedient habe. Doch ob dies zutifft bleibt abzuwarten.
Die Eroberung der Stadt wird ohne Zweifel das Selbstvertrauen der irakischen Armee und der Elitetruppen der Sonderpolizei stärken. Sie trugen die Hauptlast der Angriffe. Doch die Eroberung stellt auch politische Anforderungen an Bagdad. Ebenso wichtig wie die militärischen Erfolge sind die politischen Entwicklungen.
Herausgeforderte Regierung
Wird es den Behörden von Bagdad gelingen, den vielen Hunderttausenden von Sunniten, deren Lebenszentrum Falludscha bisher gewesen war, das Gefühl zu vermitteln, der irakische Staat anerkenne sie als seine Bürger und sei bemüht, sie in ihrer Not zu unterstützen? Oder werden sie sich in ihren Lagern vernachlässigt, wenn nicht sogar ausgebeutet fühlen und gegenüber den Schiiten marginalisiert?
Davon, noch mehr als von den rein militärischen Entwicklungen, wird es abhängen, ob der Irak zukünftig als ein Staat wird fortexistieren können, oder ob er zerbricht.