Es gibt in diesen stürmischen und unübersichtlichen Zeiten immer wieder Momente, da wünscht man sich die Wiedergeburt der einen oder anderen Persönlichkeit, mit der man reden könnte und die einem bestimmt etwas Triftiges, etwas Richtiges zu diesem oder jenem Fakt, zu diesem oder jenem Wahnsinn sagen würde. Max Frisch gehört für mich in diese Kategorie – und so beuge ich mich gespannt über den eben erschienenen, von Thomas Strässle, Professor für neuere deutsche Literatur an der Uni Zürich und Präsident der Max Frisch-Stiftung, edierten Interview-Band, wissend, dass ich den Inhalt mehrheitlich schon einmal gelesen habe, wiedererkennen werde. Trotzdem. Keine Enttäuschung. Im Gegenteil. Ich bin konfrontiert mit Texten aus den 60er-, 70er-, 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts und finde darin Gedankengänge, Gedankenspiele, Materialien, mit denen sich heute wie gestern viel anfangen lässt.
Niemand hat so oft und scharfsinnig über das aktuelle Thema des Verhältnisses von Fakt zu Fiktion nachgedacht wie Max Frisch. Und ist das Thema bei ihm auch immer eng mit der Literatur, genauer, mit der Entstehung seiner Literatur verbunden, so enthält es doch so und so viele Ueberlegungen und Aspekte, die es für den heutigen, auch den politischen Diskurs hilfreich und tauglich machen.
Kein Freund des Interviews
Frisch war, was der Herausgeber im Vorwort erwähnt, eigentlich kein Freund des klassischen Interviews. Das Genre lag ihm nicht besonders, war ihm zu oberflächlich. Er zog dem formellen Frage-und-Antwort-Schlagabtausch das Gespräch vor, am liebsten ohne Tonbandgerät, das man dann als Partner eines solchen vielleicht nicht grad nach Belieben, aber doch recht eigenmächtig auswerten durfte. Den Wünschen, dem Druck der Oeffentlichkeit konnte sich der Autor mit zunehmender Berühmtheit freilich nicht immer entziehen – und so gibt es doch eine stattliche Reihe formeller Interviews mit Max Frisch. Die im Band versammelten sind alle in Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern erschienen. Die sehr elaborierte sprachliche Form der Texte, die vielen Zitate, Querverweise, die darin stehen, die Druckreife sowohl der Fragen wie der Antworten lassen allerdings den Verdacht aufkommen, dass doch vielfach nachgebessert wurde, bevor so ein Interview in Druck ging.
Trotzdem darf man von einem eigenen literarischen Genre sprechen, wenn man sich die einzelnen Interviews/Gespräche vornimmt. Und wenn es denn einebnende Eingriffe gegeben hat, tragen doch die meisten Texte das dem Genre zugeordnete Skizzenhafte, Spontane mit sich und verbinden solche Eigenschaften mit essayistischer, sprunghafter Gedankenakrobatik, die erst noch oft die zu Frisch gehörende skeptisch-ironische Distanzierung kennt.
Inexistente Wahrheit
Zahlreich sind die Stellen im Buch, in denen sich Frisch über Realität und Fiktion äussert, über die absolute „Wahrheit“, die es nicht gibt, die höchstens in Metaphern, Parabeln anzunähern wäre, über das multiple Ich des Autors, aber auch des Menschen überhaupt („Das Ich ohne Gewähr“, wie es die Zürcher Literaturwissenschafterin Gerda Zeltner 1980 in einer grundlegenden Abhandlung formuliert hat). Ueber das Erfundene im Wirklichen hat er, einem Journalisten gegenübersitzend, laut nachgedacht, über unsere Sucht, uns Bilder oder eben auch Fakten so zurechtzulegen, dass wir sie akzeptieren können, dass sie sich mit unseren (Vor)Urteilen decken. Er wird nicht müde, den Gesprächspartnern zu erklären, dass sein Tagebuch-Stil keine privaten Bekenntnisse liefere, sondern als literarische Form zu verstehen sei, innerhalb derer Fakten und Fiktionen gleichwertig sein können. Einmal bereut er in diesem Zusammenhang das Montaigne-Zitat (ein Bekenntnis zur Ich-Erzählung), das er dem Roman „Montauk“ vorangestellt hat, scheint es doch geeignet, die Leserschaft auf falsche Fährten zu locken.
Am Theater liebte Frisch am meisten das Stadium des Unfertigen, des „Probierens“, wie er es nannte. Das Stück liegt zwar festgeschrieben vor und der Autor möchte es am liebsten nicht mehr ändern. Aber Regisseur und Schauspieler können den Dialogen und Monologen Klänge, Richtungen, Ziele geben, die den vom Autor gemeinten Sinn verändern. Nichts ist definitiv fixiert und gesagt; in der Realität des Textes gibt es Spielraum für Möglichkeiten, die ihn, im Buchstaben oder in der Intonation verändern. Dass das Ich, auch im Leben, immer eine Rolle spielt, wie der Schauspieler im Theater, war eine der provokativen Thesen, mit denen Frisch seine Interview-Partner gerne konfrontierte – nicht zuletzt, um sie davon abzuhalten, ihm allzusehr „auf den Leib zu rücken“, was einem mit dem Genre eng verbundenen Bedürfnis entspricht, das er nicht leiden konnte.
Max Frisch: „Wie Sie mir auf den Leib rücken!“ Interviews und Gespräche. Herausgegeben von Thomas Strässle. Suhrkamp Verlag, 2017. 237 Seiten, CHF 29.90.