An jedem Geburtstag, den Fredi M. Murer feiert, heute den fünfundsiebzigsten, darf gratulierend aus einem Brief John Bergers, des scharfsinnigen Schriftstellers, Drehbuchautors und Kunstkritikers, zitiert werden:
"Lieber Herr Murer - Ich möchte Ihnen ganz einfach sagen, dass Ihr Film 'Höhenfeuer' ein Meisterwerk ist. Für mich zählt er zu den zehn grössten Werken der Filmgeschichte. Sie übertreffen gar die Brüder Taviani. Ich möchte Sie beglückwünschen, Ihnen danken - und, wenn das in meiner Macht läge, segnen."
Diese wunderbare Würdigung in kürzester Form könnte abschliessend sein, wäre in unserem Land der Weg leicht, als Filmschaffender Anerkennung und dann den Ruf einer Autorität zu gewinnen. Das Gegenteil ist die Regel und macht die Frage interessant, wie sich Fredi Murer als Ausnahmebegabung erklärt.
Souveräne Meisterung der Hürden
Dazu gehört vorab die Feststellung, dass auch er die harten Regeln zu spüren bekam. Er drehte seit 1962 bis heute 23 Dokumentar- und Spielfilme, jährlich weniger als einen halben. Anders gesagt: Während 53 Jahren als Filmschaffender war ihm, obwohl über Ideen und Projekte verfügend, während 35 Jahren keine eigene Premiere vergönnt. Er brauchte für die Geldsuche doppelt so viel Zeit wie fürs Drehen.
Das lag nicht an den fehlenden Mitteln, sondern an der helvetischen Eigentümlichkeit des Förderns, Erfahrung und Erfolg zu beargwöhnen, an den Drehbüchern herumzunörgeln und selbst mit internationalen und nationalen Ehrungen bedachte Filmschaffende tantig ans ewig lauernde Scheitern zu erinnern.
Es herrscht Demütigung. Sie verhindert Kontinuität. Deshalb ist Fredi Murer vor den Filmen für die Souveränität zu loben, die Widerstände zu ertragen, für die immer wieder neue geschöpfte Kraft, sie zu meistern, und für die Kreativität, ihre Verhinderung mit dem Leinwandbeweis ad absurdum zu führen.
Fesselnder Erzähler
Fredi Murer ist als präziser, kaum zu täuschender und ironischer Beobachter seines Umfeldes ein fesselnder Erzähler wahrer und märchenhafter Geschichten, die Wahrheit auf die Pointe hin zuspitzend und mit den Märchen den Zweifel weckend, ob es sich nicht doch um Wirklichkeit handelt. Aus den Erzählungen werden Reden, Zeichnungen und Filme von subversiver Poesie, die alle auf die falsche Fährte bringt, die entweder nur das Rebellische oder nur das Sanfte sehen wollen.
Die Gleichzeitigkeit des Gegenteiligen ist wichtig und wird inszeniert als zauberhaftes Spiel mit wechselnden Bedeutungen und gewollten Irritationen, mit den beiden Seiten einer Münze und mit den kleinen Welten, in denen die grossen verdichtet sind. Fredi Murers Filme sind, ob fiktional oder dokumentarisch, allesamt Spielfilme, genauer: Akrobatikfilme mit klaren Botschaften und lustvollen Relativierungen, mit bohrenden Analysen und geschliffenen Folgerungen.
Kinofüllende Liebesfilme
Und im Grunde genommen sind es Liebesfilme. Fredi Murer liebt die Menschen, die er vor die Kamera holt, und jene, die vor der Leinwand und dem Bildschirm sitzen. Nicht abendfüllend, sondern kinofüllend wollte er seine Filme haben. Das Gelingen schrieb ihm die Freude ins strahlende Gesicht.
In seinen Filmen behandelt er jede Person, ob Zeitzeuge oder Schauspieler, ob ihm nah oder fern, mit hohem Anstand. Die Redlichkeit, mit der er Kritik übt, ist die politische Wirkung seiner Filme.
Prinzip Hoffnung
Seine herzlichste Liebe gilt den Kindern. Sie sind sein Prinzip Hoffnung. Ihre Zukunft ist das die Filme zuinnerst verbindende Thema. Geleitet von der Befürchtung, die Welt gerate aus den Fugen, vom Willen, dagegen vehement einen Beitrag zu leisten, und von der Absicht, den Erwachsenen die Chance zu bieten, von Sehenden zu Hellsichtigen zu werden, von Hörenden zu Hellhörigen, von Unbesorgten zu Gewarnten.
Selbstverständlich ist Fredi Murer ein Moralist. Aber einer, der deswegen keinen Schatten auf sich zieht. Die Filme sind zu geistreich, zu spannend, zu ehrlich und künstlerisch zu überzeugend.
Belohnter Kraftakt
Das sind die Erklärungen für den filmgeschichtlich aussergewöhnlichen Rang. Auch erworben mit Fleiss, mit handwerklicher Sorgfalt, mit Geduld im Vertrauen auf den eigenen langen Atem und mit der Courage, sich einzumischen und Kastanien aus dem filmpolitischen Feuer zu holen.
Fredi Murer war in den frühen Sechzigerjahren Mitbegründer des neuen Schweizer Films und begründete seither Film für Film den kulturellen Segen des zornigen und kreativen Aufbruchs.
Letzter Film, aber vielleicht nicht das letzte Wort
Nach dem 2014 vollendeten "Liebe und Zufall" behauptete Fredi Murer durch alle Böden hindurch, es sei sein letzter Film gewesen. Aber vielleicht war es nicht das letzte Wort. Wir wissen ja, dass Fredi Murer ein orientalischer Erzähler von Geschichten ist, deren Wahrheit andere Wahrheiten verhüllt.
Wir wünschen dem fabelhaften Lichtspiel-Zauberer dankbar alles Glück und uns, nochmals überrascht zu werden.