Der Pulverrauch hat sich fürs Erste verzogen, und man reibt sich die Augen. Aber es ist nur eine Feuerpause. Die von der Wirtschaftskommission des Nationalrates in Stellung gebrachten Geschütze sind noch immer geladen und auf ein Ziel gerichtet, das man – zumindest in diesem Land – bis vor kurzem fast so heilig und unantastbar wähnte wie ein mit dem roten Kreuz bemalter Krankenwagen.
Es ist verständlich, dass die Nerven wegen der seit einem Jahr unser Leben dominierenden Pandemie vielerorts blank liegen. Dass man in einer Zeit grosser Unsicherheit zusätzlich eine Meinungsvielfalt zwischen verschiedenen – wirklichen und selbsternannten – Experten auszuhalten hat, wie dies eigentlich für eine lebendige Demokratie und ganz besonders für ein neues Problem wie die Covid-19-Pandemie normal ist, stellt zusätzliche Anforderungen an alle. Doch die Komplexität der Realität war der bürgerlichen Mehrheit besagter Kommission offenbar so sehr ein Dorn im Auge, dass sie nach einem Instrument zu greifen bereit war, das wir sonst nur in der Werkzeugkiste diktatorischer Staaten finden: Den Mitgliedern der wissenschaftlichen Task Force soll per Gesetz untersagt werden, sich in der Öffentlichkeit über die Pandemie und deren Bekämpfung zu äussern.
Überlegen wir für einen Moment, was eine solche Bestimmung in ihrer letzten Konsequenz zu bedeuten hätte: Einerseits gründet das politische System der Demokratie auf der Idee der Gleichheit aller mündigen Bürger und dem Recht der freien Meinungsäusserung, unabhängig davon, welches Wissen und welche Erfahrung diese mitbringen. Andererseits sind wir, Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, nicht nur Gleichberechtigte, sondern verfügen – zum Glück für unseren Staat – über ganz unterschiedliche Erfahrung und über spezielles Wissen. Die Demokratie ist darauf angewiesen, dass sich dieser Sachverstand in die öffentliche Debatte einbringt und so die Qualität des politischen Entscheides fördert. Darüber hinaus muss der Staat das vorhandene Fachwissen in Form von Expertisen und mittels Expertenkommissionen direkt nutzen, wobei allen Beteiligten klar ist, dass die Abwägung zwischen verschiedenen Aspekten eines bestimmten Problems letztlich in der Verantwortung der in einem demokratischen Prozess gewählten politischen Mandatsträger verbleibt.
Doch das Volk akzeptiert diesen politischen Abwägungsprozess letztlich nur dann, wenn alle Faktoren, welche für einen Entscheid eine Rolle gespielt haben, offengelegt werden. Das Wissen von Fachpersonen in einem beratenden Gremium quasi exklusiv durch die Politik zu pachten und die Öffentlichkeit von diesem Wissen auszuschliessen, ist dem Geiste der Demokratie diametral entgegen gesetzt. Die Vielfalt der Meinungen aushalten zu können – und seien sie noch so dissonant – und trotzdem zu entscheiden, ist die grosse Kunst der Politik und zugleich eine zentrale Anforderung an alle, welche ein politisches Amt ausüben.
Der Maulkorb hat in einer Demokratie nichts zu suchen. Einmal als Machtinstrument der Politik akzeptiert, würde er bald nicht nur den Virologen und mathematischen Modellbauern verpasst, sondern allen andern auch, welche sich aufgrund ihrer speziellen Erfahrung und ihres Wissens in irgend einer Frage Gehör verschaffen und politische Entscheide kritisieren: den Bauern, Bankern, Erdölhändlern, Tourismusfachleuten, Künstlerinnen, Sportfunktionären ... Wer wollte da noch als Experte sein Wissen dem Staat zur Verfügung stellen und sich in die Isolierzelle einer Expertenkommission sperren lassen?
Ich bin zwar Optimist und glaube nicht daran, dass der Vorschlag der Wirtschaftskommission die Diskussion im Parlament überleben wird, aber es ist schon ungeheuerlich genug, dass er überhaupt gemacht wurde.