Bei seinem jüngsten Besuch in Berlin behauptete Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, nicht die Siedlungspolitik seines Landes sei das Problem, sondern die feindlichen arabischen Nachbarn.
Fatale Importe
Das ist aber ganz falsch, wie jetzt eine detaillierte, wohl dokumentierte Studie von „Medico International“ beweist: Es sei die Siedlungspolitik, die das Haupthindernis zum Frieden darstelle, sagen die Autoren. Und es kommt noch schlimmer in der Recherche. Europa in Gestalt der „Europäischen Union“ habe zwar in zahlreichen Erklärungen die Siedlungspolitik als völkerrechtlich illegal bezeichnet. Dennoch stütze die EU die Siedlungen – indem die einzelnen Mitgliedstaaten Güter aus den Siedlungen importierten. Wörtlich heisst es in dem Report:
„Nach der jüngsten Schätzung der israelischen Regierung gegenüber der Weltbank liegt die Höhe der Importe aus den Siedlungen bei 350 Millionen Dollar (230 Millionen Euro) pro Jahr ungefähr fünfzehn Mal so hoch wie die der jährlichen EU-Importe von Palästinensern. Umgerechnet auf die mehr als vier Millionen Palästinenser und über 500 000 israelischen Siedler, die in den besetzten Gebieten leben, bedeutet das, dass die EU über 100mal so viel pro Siedler importiert wie pro Palästinenser.“
Europas Pflichtverletzung
Während die israelischen Siedler, so heisst es in der Studie weiter, von breit gefächerten israelischen Subventionen und leichtem Zugang zu internationalen Märkten profitierten, lege die Regierung in Jerusalem palästinensischen Exporten Hindernisse in den Weg, wo es nur gehe. Israel nutze die besten Wasserreserven des Westjordanlandes, verbiete den Palästinensern aber häufig, neue Brunnen zu bohren.
Durch diese und andere Massnahmen seien die palästinensischen Exporte, die in den 1980-er Jahren noch etwa die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes ausgemacht hätten, auf etwa fünfzehn Prozent des BIP zurück gegangen.
„Die vielfältigen Verflechtungen mit Siedlungen sind unvereinbar mit Europas Verpflichtungen nach internationalem Recht, demzufolge dritte Parteien, europäische Regierungen eingeschlossen, die Pflicht haben, Siedlungen nicht anzuerkennen und keine Beihilfe oder Unterstützung zu leisten“, schreiben die Autoren.
Die drei Zonen
Zur Erinnerung: Den Oslo-Abkommen von 1993 und 1995 zufolge wurde das Westjordanland in drei Zonen eingeteilt. Die Zone A mit ihren grossen Städten steht – formal - unter voller ziviler und polizeilicher Kontrolle der „Palästinensischen Autonomiebehörde“ in Ramallah. Tatsächlich aber nimmt sich das israelische Militär, in Zusammenspiel mit der Autonomiebehörde, das Recht heraus, in die Zone A einzudringen und „verdächtige“ Palästinenser zu verhaften. Flächenmässig macht diese Zone A achtzehn Prozent des Westjordanlandes aus.
Zone B wird von den Palästinensern verwaltet, steht aber unter gemeinsamer israelisch-palästinensischer Sicherheitskontrolle. Zone C, mit 62 Prozent das grösste Gebiet des Westjordanlandes, untersteht der völligen Kontrolle der Israelis. Diese Fragmentierung des Landes behindere, wie es in einem internen EU-Bericht heisst, den eben von der EU und den USA geforderten palästinensischen Staatsaufbau.
Zone C, in vollständigem israelischen Besitz, hat die besten landwirtschaftlichen Gebiete, weil sie, zumeist im Jordantal, auch die grössten Wasserreserven hat. Die israelischen Siedler stellen etwa dreizehn Prozent der Bevölkerung des Jordantales, kontrollieren aber 86 Prozent seiner Fläche. „Landaneignungen, Hauszerstörungen, und Vertreibung“, schreiben die Autoren, „haben sich in den letzten Jahren beschleunigt.“
Der Raub des Wassers
Die israelische Regierung habe zudem einen Plan erörtert, die Zuteilung von bebaubarem Land an Siedler im Jordantal um 130 Prozent und ihre Wasserrationen um 20 Prozent zu steigern. Die europäische Nachfrage nach Siedlungsobst und –gemüse trage zu diesen Entwicklungen bei.
Überhaupt verbrauchten die Siedler 4,3 mal mehr Wasser als die Palästinenser. Maximal 70 Liter pro Person stünden den Palästinensern pro Tag zur Verfügung; die Weltgesundheitsorganisation habe als Minimum aber 100 Liter pro Person und Tag festgesetzt.
Die Studie bezeichnet das Jordantal als den „Brotkorb“ eines möglichen zukünftigen palästinensischen Staates. Die weitere Okkupation des Jordantales durch Israel, so lautet die Schlussfolgerung aus der Siedlungspolitik, soll verhindern, dass ein Palästinenserstaat lebensfähig ist. Damit soll die Gründung eines solchen Staates überhaupt unmöglich gemacht werden.
Falsche Warenkennzeichnungen
Die Forscher konstatieren zudem, dass mehr Palästinenser als je zuvor aus ihren traditionellen Wohnbezirken vertrieben wurden: Im Jahre 2011 seien in der Zone C und in Ostjerusalem 622 palästinensische Wohnhäuser, Brunnen, Regenwasserzisternen zerstört und 1100 Palästinenser vertrieben worden. Im Jahre 2012 habe diese Tendenz noch zugenommen, tausende Palästinenser seien von Vertreibung bedroht.
Das europäische Problem mit den landwirtschaftlichen und industriellen Importen aus den Siedlungen bestehe, schreiben die Autoren, insbesondere darin, dass die Importware meistens unzureichend deklariert sei. Viele Produkte aus den Siedlungen würden wahrheitswidrig mit „Israel“ als Herkunftsland gekennzeichnet. Wünschenswert sei es aber, dass man beim Import zwischen palästinensischen Gebieten und den Siedlungen unterscheide und die Waren entsprechend beschrifte.
Ein weiterer Verstoss gegen internationales Recht
Die Schweizer Einzelhandelskette „Migros“ hat dem Bericht zufolge angekündigt, vom Jahr 2013 an alle Produkte, die aus Israel und dem besetzten Westjordanland kommen, entsprechend zu kennzeichnen. Südafrika hat eine solche Bestimmung bereits in Kraft gesetzt. Die britische Regierung hat bereits 2009 entsprechende Richtlinien zur Kennzeichnung der aus Israel und den besetzten Gebieten importierten Güter erlassen. In dem Bericht von „Medico International“ heisst es, diese Anleitungen seien vom Handel gut angenommen worden.
Zu den häufigsten aus den illegalen israelischen Siedlungen nach Europa importierten Gütern gehören nach Angaben der Studie von "Medico International" landwirtschaftliche Produkte. Aber auch Industriewaren werden aus Siedlungen importiert. Darunter sind die Erzeugnisse der Kosmetikfirma „Abaya – Dead Sea Laboratoeies“. Alle Waren dieser Firma würden in der israelischen Siedlung Mitzbe Shalem hergestellt. Auch besitze die Firma die Lizenz, für einige ihrer Produkte Schlamm aus dem Toten Meer zu entnehmen, was, weil dieser Rohstoff den Palästinensern gehöre, ein Verstoss gegen internationales Recht sei. 2008 habe die Firma einen Exportgewinn von 17 Millionen Dollar erzielt. Die Waren der Firma seien mit „Hergestellt in Israel“ gekennzeichnet, obwohl sie in einer Siedlung des besetzten Westjordanlandes produziert würden. Teilhaber an Abaya mit zusammen 45 Prozent der Anteile seien zwei israelische Siedlungen – in die demnach auch ein beträchtlicher Teil der Gewinne fliesse.
Rückzug der deutschen Bahn-AG
Zuweilen hat der Druck der Zivilgesellschaft oder auch der Regierungen dazu beigetragen, dass europäische Firmen ihr Engagement in den Siedlungen überdenken. So plante die französische Firma Veolia, ihr Engagement beim Projekt der Jerusalemer Strassenbahn, die auch zu Siedlungen führt, aufzugeben, sei aber bis jetzt, dem Bericht zufolge, mit Hinweis auf ihre vertraglichen Verpflichtungen von den Behörden in Jerusalem an einem Ausstieg gehindert worden. Die Deutsche Bahn AG habe sich - nach einer Intervention der Bundesregierung in Berlin - von einem ähnlichen Projekt zurückgezogen.
Der Bericht von „Medico International“ ist voller weiterer Detailangaben. Fazit: Gewollt oder ungewollt unterstützen europäische Staaten durch ihre Importe aus den Siedlungen die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik Israels. Nicht nur indirekt mindern sie durch diese Praxis auch die Kosten der israelischen Besatzung.
Geld versickert im blutgetränkten Sand
Die Kosten, die verursacht werden, wenn ein Staat ein ihm nicht gehörendes Gebiet besetzt, muss nach internationalem Recht der besetzende Staat bezahlen. Dieser ist auch für das Wohlergehen der dort wohnenden Bevölkerung zuständig. Konkret: Es ist eigentlich Israel, das für die Infrastruktur, den Gesundheitsdienst, die Arbeitsvermittlung und für das Sozialsystem in den von ihm besetzten Gebiete zuständig ist.
Seit den Vereinbarungen von Oslo von 1993 und 1995 unterstützt aber insbesondere Europa an Stelle von Israel die damals geschaffene palästinensische Autonomiebehörde mit beträchtlichen Summen. Das Ziel dieser Zahlungen war stets, durch diese Starthilfe eine palästinensische Staatsgründung zu fördern. Das ist aber so gut wie unmöglich geworden. Logisch wäre es also, die Subventionen der Palästinenser einzustellen und Israel die Kosten für seine Besatzung bezahlen zu lassen. Natürlich, möchte man fast sagen, sind die Europäer wegen ihrer politischen Affinität zu Israel zu einer solchen Konsequenz nicht bereit.
Immerhin hat wenigstens einer dieses Thema angesprochen. Es war der EU-Aussenkommissar Chris Patten, der dieses Amt von 1999 bis 2004 bekleidete. Er sagte: „Gegenwärtig begleichen internationale Geldgeber den Grossteil der Rechnung für die Folgen der Besatzung, die nach der Genfer Konvention von Israel getragen werden sollte ... Wenn Israel, wie von seinem Premierminister angekündigt, den Siedlungsausbau weiter fortsetzt und damit so gut wie jede Übereinkunft über einen lebensfähigen palästinensischen Staat unmöglich macht, soll dann die internationale Gemeinschaft die Achseln zucken und weitere Schecks ausstellen? Das Geld, das ich als EU-Kommissar über fünf Jahre hinweg im Namen europäischer Wähler und Steuerzahler in Palästina ausgegeben habe, ist im blutgetränkten Sand versickert.“
Quelle des Berichtes von Medico International: www.medico.de „Handel gegen den Frieden. Wie Europa zur Erhaltung illegaler israelischer Siedlungen beiträgt.“