Die gegenwärtige, offizielle Europapolitik der Schweiz, geprägt von innenpolitischem Kalkül und geopolitischer Nostalgie, braucht dringend einen Neuanfang. Der Bundesrat und Mehrheiten in der schweizerischen Politlandschaft predigen momentan Abwarten und Trippelschritte. Sie untergraben damit die andauernde Verankerung unserer Wirtschaft im EU-Binnenmarkt. Gewisse Unternehmen leiden bereits heute, andere werden folgen.
Die globale geopolitische Lage ist im Fluss, auch die Schweiz muss sich positionieren. Mit der offiziellen, zögerlichen Europapolitik wird die Position der Schweiz als verlässlicher internationaler Vertragspartner in Frage gestellt.
Schlachten heiliger Kühe
Bevor die für schweizerische Wirtschaftsinteressen zentrale Binnenmarktproblematik angesprochen werden kann, müssen zwei heilige, aber überholte Dogmen aus dem helvetischen Europa-Diskurs entfernt werden.
Da ist einmal die Souveränität, ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert. Rein nationale Souveränität wurde im 20. Jahrhundert durch Gewaltherrschaften in Europa pervertiert und muss heute als geteilte Souveränität verstanden werden. Schon Adenauer sagte, dass Alleinsein die schlimmsten Züge eines Landes zum Vorschein bringt und meinte damit die zwingende Notwendigkeit, sich gegenüber Bedrohungen mit Gleichgesinnten zu vereinen. Souveränität ist also als gemeinsames Handeln zu verstehen. Da, wo der einzelne Staat im Verbund sowohl freier als auch wirkungsvoller handeln kann als auf der starren Schiene rein nationalstaatlicher Souveränität.*
Da ist zum zweiten die Neutralität, wie die Souveränität ein Begriff aus dem 19. Jahrhundert. Die völkerrechtliche Neutralität, die Nichtteilnahme an Militärbündnissen hat nach Ende des zweiten Weltkrieges ihre Bedeutung verloren. Im heutigen Europa sind wir nicht neutral – zwischen wem schon? –, sondern leben im Herzen eines Kontinents, wo historische «ewige Feindschaften» enger Zusammenarbeit und fortschreitender Unionisierung Platz gemacht haben. Im Verhältnis der Schweiz zur EU spielt die Neutralität keine Rolle.
Neutralität
Neutralität und gute Dienste werden oft synonym gebraucht. Doch Gute Dienste zu leisten als Briefträger zwischen Teheran und Washington und als Gastgeber in Genf hat nichts zu tun mit Neutralität, sondern mit klugem Mitteleinsatz und guter Diplomatie.
Neutralität hat nie moralische Mittelstellung bedeutet, heute im globalen Kontext noch viel weniger als seinerzeit in Europa. So steht die Schweiz im wichtigsten Konflikt der heutigen Zeit, China vs. USA, klar auf der Seite westlicher Wertetraditionen. Und wir sagen das auch deutlich wie in der kürzlich veröffentlichten Chinastrategie des Bundesrates, wo gleich zu Beginn von «häufigen und deutlichen Wertedifferenzen» die Rede ist.
Kurzfristige Lösungen
Was den Binnenmarkt anbelangt, so steht kurzfristig einmal die Lösung institutioneller Fragen an, ohne die unsere Beziehungen zur EU blockiert bleiben. Wenn wir im Rahmen der sogenannten Streitbeilegung bereit sind, dem offensichtlichen Grundsatz nachzuleben, dass in einem gemeinsamen Markt auch dieselben Regeln für alle Teilnehmer gelten müssen, liegen zwischen Bern und Brüssel fertig ausgehandelte Lösungen vor. Von fremden Richtern keine Spur.
Lösbar ist weiter die Frage der vollen Personenfreizügigkeit. Auch hier gilt der Grundsatz, dass gleiche Regeln für alle gelten. Das hier beschworene Gespenst mittelloser Sozialhilfebezüger, welche unter der Unionsbürgerrichtlinie die Schweiz überfluten würden, kann bei wirklichem Missbrauch mit einseitigen Schutzklauseln (sogenannten «safeguards») begegnet werden, wie sie auch in der EU geläufig sind.
Finanzen
Weiter muss auch die Frage regelmässiger finanzieller Beiträge der Schweiz gelöst werden. Dies einmal in Form von Kohäsionszahlungen, um das West-Ost-, und das Nord-Süd-Gefälle innerhalb des Binnenmarktes zu mildern. Aber auch ausserhalb der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im gemeinsamen Markt sind Beiträge ans EU-Budget sowohl von Brüssel gewünscht als auch gerechtfertigt. Zu denken ist an Schengen, Forschung und Ausbildung, Kultur und anderes. Grundsätzlich geht es darum, dass die Schweiz sehr breit von der Idee und der Konstruktion der EU profitiert. «Brüssel» ist nicht nur ein Wirtschaftspartner wie irgendein anderer, mit dem wir Verträge abschliessen, sondern auch unsere gemeinsame Heimat. Wir Schweizerinnen und Schweizer sind auch Europäer.
Zur Finanzierung muss an ein weiteres, vermeintlich sakrosanktes Dogma gerührt werden. Im Rahmen des Internationalen Währungsfonds, dem wir als Mitglied angehören, bestehen Währungsreserven. Diese «gehören» der Schweiz und nicht der Nationalbank, im Gegensatz zu den Überschüssen in der SNB-Bilanz. Sie werden denn auch vom Finanzdepartement mitverwaltet. Diese Sonderziehungsrechte («special drawing rights», SDR) – weder je gebraucht noch mit budgetrelevanten Kosten verbunden – könnten als europapolitisch zählende Zuwendungen an Finanzierungen eingesetzt werden, welche EU-Länder aus ihren SDR-Reserven finanzieren.
Bilaterale Abkommen
Nach der Bereinigung dieser institutionellen Hürden und zur Abwendung schweren Schadens für die schweizerische Wirtschaft steht die Fortführung und Ergänzung bilateraler Abkommen an. Vordringlich sind dabei das Abkommen über technische Handelshemmnisse (sogenannte «Mutual Recognition Agreement on assessment of conformity», MRA), ebenso wie die Erneuerung des Stromabkommens und von Teilen der Forschungszusammenarbeit.
Politische Imperative
Globalen Herausforderungen kann sich Europa nur als Ganzes stellen. Dazu gehört einmal die Klimapolitik, wo die EU mit ihrem «Green New Deal» die kritische Grösse hat, global zur Verbesserung beizutragen, was einzelne Staaten, so auch die Schweiz, bei allem guten Willen, nicht können.
Als eines der wenigen Sehnsuchtsziele weltweiter Migration muss Europa, getreu seinen Grundwerten und zur Vermeidung nationalpopulistischer Eruptionen in einzelnen Staaten, seine Migrationspolitik weiter ausbauen. Dazu gehören Definition der Aussengrenzen und ihre Sicherung (Frontex), ebenso wie Eingliederung und Assimilation vertretbarer Zahlen von in ihren Herkunftsländern verfolgten und verarmten Migranten. Hier beteiligt sich die Schweiz bereits via Schengen-Abkommen; ständiges Störfeuer von rechts (Masseneinwanderungsinitiative, Begrenzungsinitiative) und von links (Referendum gegen Frontex-Beitrag) tragen nicht dazu bei, unser Land als verlässlichen europäischen Partner in Migrationsfragen erscheinen zu lassen.
Bei diesen und bei weiteren Herausforderungen an Europa – so etwa Sicherheitspolitik angesichts von russischem Revanchismus – gilt das geflügelte Wort von Angela Merkel, «Deutschland allein ist zu klein», offensichtlich noch in vermehrtem Masse für die Schweiz.
Keine Eile mit Weile
Allgemein ist eine unverzügliche Einigung mit der EU über die hier skizzierten Wegmarken der Verhandlungen, also einer verbindlichen «road map»**, geboten. Die EU wartet nicht. Die Schweiz ist von der EU aus gesehen neu in dieselbe Kategorie wie das Brexit-UK von Boris Johnson eingeteilt worden, in jene eines «Drittstaates». Die Türkei gehört auch dazu. Politisch ist das für uns als europäisches Kernland entwürdigend. Sich in demselben Korb zu finden mit dem England der leeren Supermarkt-Regale und der abnehmenden Bedeutung als Finanzzentrum, ist auch wirtschaftlich gefährlich.
Die schweizerische Zivilgesellschaft ist dringend aufgerufen, die Führung zu übernehmen, um wieder eine tragfähige Basis der schweizerischen Beziehungen zur EU zu schaffen. Unsere Regierung scheint das im Moment nicht zu schaffen..
*Siehe dazu: Thomas Cottier/Andre Holenstein: Die Souveränität der Schweiz in Europa, Mythen, Realität und Wandel, Stämpfli 2021
** Die Vereinigung Die Schweiz in Europa/Association La Suisse en Europe, ASE hat eine detaillierte solche «road map» ausgearbeitet. Sie ist Englisch gehalten, da sie auch in der EU verteilt wird, weist aber eine Kurzzusammenfassung in Deutsch und Französisch auf.