Frage: Ist die europäische Haltung gegenüber Afrika durch einen heimlichen Hochmut geprägt?
Asfa-Wossen Asserate*: Da möchte ich widersprechen. Es ist nicht Hochmut, sondern Desinteresse. Afrika wird nur dann für die Europäer interessant, wenn es um neue Bodenschätze geht. Derzeit ist besonders Coltan begehrt. Das gibt es in grossen Mengen im Kongo. Interessant wird Afrika auch, seitdem die Europäer realisiert haben, dass sich die Chinesen sehr stark in Afrika engagieren. Sie haben in den letzten 20 Jahren hunderte von Milliarden Dollar in Afrika investiert. Das haben die Europäer nicht getan. Sie haben sich höchstens in den klassischen Handelsländern wie Südafrika und dem Maghreb engagiert. Und plötzlich fragt man: Wie konnten wir das alles den Chinesen überlassen?
Zeigt sich dieses Desinteresse auch an der Unfähigkeit, die Flüchtlingsproblematik anzugehen?
Das ist wieder ein vollkommen anderes Problem. Es handelt sich hier um das Produkt der 30-jährigen europäischen „Realpolitik“. „Realpolitik“ bedeutet nichts anderes als: „Du kannst der grösste Gauner auf Erden sein, solange du an der Macht bist, kommen wir europäischen Demokraten auf Knien angekrochen und beten dich an.“ Deswegen hat man die ganze Zeit über die Tatsache ignoriert, dass die grössten Produzenten von Migranten die afrikanischen Diktatoren sind. Die wurden mit europäischen Steuergeldern alimentiert. Wir haben inzwischen, Gott sei Dank, eine neue Generation von Afrikanern, die dazu Nein sagen. Wir sehen das nicht nur in Ägypten und Tunesien.
Gibt es zu der neuen aufbegehrenden Generation der Afrikaner in Europa spiegelbildlich eine Art Regression in Gestalt der rechtsgerichteten populistischen Bewegungen?
Das ist bei uns in Deutschland aber minimal. In England und Frankreich mag das tatsächlich Besorgnis erregend sein. Nicht die rechtsgerichteten populistischen Bewegungen sind meiner Meinung nach das Problem, sondern die europäische „Realpolitik“. Bald werden wir es nicht mehr mit Zehntausenden oder Hunderttausenden von Flüchtlingen zu tun haben, sondern mit Millionen. Europa muss endlich aufwachen und die wahren Gründe dafür suchen. Europa kann es sich nicht mehr leisten, sich nur mit den Symptomen zu beschäftigen, sondern muss sich mit den Ursachen konfrontieren.
Was ist aus europäischer Sicht jetzt konkret zu tun?
Ganz einfach. Die gesamte Afrikapolitik ist zu annullieren. Die Europäer müssen zu neuen Ufern aufbrechen. Dazu braucht es eine gemeinsame europäische Aussenpolitik. Es hat keinen Sinn, dass jedes Land seine eigene Politik betreibt, aber die Probleme alle gleichermassen treffen. Wir brauchen die Solidarität aller Europäer. Denn es hat keinen Sinn, dass zum Beispiel die Bundesrepublik Deutschland Massnahmen gegen die Verletzung von Menschenrechten ergreift und Frankreich dann mit genau diesen Staaten gute Geschäfte macht. Diese gemeinsame europäische Aussenpolitik muss auf allgemein anerkannten universalen Werten beruhen.
Diese wertebasierte Politik bezeichnen Sie als Weltbürgertum.
Alle afrikanischen Länder sind UNO-Mitglieder. Damit sind alle Afrikaner Weltbürger. Das bedeutet, dass der Westen nicht versucht, den Afrikanern europäische Werte zu oktroyieren, sondern die Afrikaner haben als UNO-Mitglieder diese Werte selbstständig und freiwillig unterschrieben. Ich spreche also von den Menschenrechten, die von allen afrikanischen Ländern ratifiziert worden sind. Diese Menschenrechte sind seit 1948 Bestandteil der UNO.
Für die Flüchtlinge, die jetzt aus Afrika zu uns kommen, bietet Europa keine Lösungen. Bezüglich der Menschenrechte misst Europa mit zweierlei Mass.
Europa ist immer nur bereit, Symptome zu behandeln. Wie bereits gesagt, wird darüber die Ursache für die Migration vergessen. Wenn ich auf Lampedusa schaue, lache ich mich tot. Da geht es derzeit um 23.000 Flüchtlinge. Und die Europäer sind mit ihrem Latein schon am Ende. Das ist lächerlich. In nicht allzu ferner Zukunft werden wir beide eines Morgens aufstehen und im DeutschlandRadio hören: „Soeben erreicht uns die Nachricht aus Gibraltar, das 7 Millionen Afrikaner auf dem Weg nach Europa sind.“ Die werden sich auch mit militärischen Drohungen nicht abhalten lassen, denn sie werden sagen: „ Wenn ihr uns nach Hause schickt, sterben wir sowieso, weil wir nichts mehr zu essen haben.“ Das ist keine Fiktion, das ist die Realität. Europa muss endlich aufwachen. Und wenn man die Flüchtlinge nicht will, muss man das Menschenmögliche tun, damit die potentiellen Flüchtlinge in ihren Heimatländern ein halbwegs menschenwürdiges Leben führen können.
Die konkrete Politik gegenüber Libyen besteht in einer militärischen Unterstützung.
Hätten sie Gaddafi nicht bis vor drei Monaten auf Händen getragen, wäre das alles nicht notwendig gewesen. Ich weiss, dass es schwer ist, die eigenen Fehler einzugestehen, aber darum geht es. Wer hat denn 30 Jahre lang Mubarak auf Händen getragen? Gegenüber der Weltöffentlichkeit wurde immer gesagt: „Das ist unser zuverlässigster Alliierter.“ Was er mit dem eigenen Volk gemacht hat, hat niemanden einen Deut geschert. - Die Europäer müssen endlich begreifen, dass so etwas keine Zukunft mehr hat.
Wie würde eine Änderung politisch konkret aussehen?
Die Änderung besteht darin, dass Europa die eigenen Wertmassstäbe in der Afrikapolitik nicht verrät. Ganz einfach.
Was mich immer wieder irritiert, ist die Tatsache, dass der amerikanische Geheimdienst sehr eng mit Mubarak zusammengearbeitet hat.
Das tun sie doch mit jedem. Dafür gibt es das Schlagwort: „Alliierter im Krieg gegen den Terrorismus“. Die Definition, wer als Terrorist zu gelten hat, hat der Westen für sich in Anspruch genommen. Darum geht es. Früher war das der Kommunismus, heute ist es der Terrorismus. Im Zeichen des Antikommunismus wurde in Afrika eine Klientelpolitik getrieben, die letztlich nur zu Diktaturen, Armut und Elend geführt hat.
Mental stecken die Europäer schon seit längerer Zeit in einer Schwächephase, indem sie an ihre eigenen Werte nicht mehr glauben.
Genau. Das ist die eine Sache. Das Zweite ist die mangelnde Bereitschaft zu akzeptieren, dass es mit dieser Klientelpolitik nicht so weitergehen kann. Inzwischen gibt es Afrikaner, die diese Art der Politik nicht mehr akzeptieren. Das ist die Lehre. Aber ich glaube nicht daran, dass die Europäer diese Lehre schon verinnerlicht haben. Sie glauben immer noch, dass die jetzigen Demokratiebewegungen vorübergehender Natur sind.
Und besteht nicht an der Basis die Meinung, dass die Fremden sowieso nicht zu uns passen? Ich denke dabei an das Buch von Thilo Sarrazin.
Sarrazin hat einige Probleme richtig gesehen und angesprochen. Sein grösster Fehler aber besteht darin, dass er sich in eine pseudowissenschaftliche Debatte über Erbanlagen verwickelt hat. Darin ähnelt er dem deutschen Philosophen Immanuel Kant. Beide haben den grossen Fehler gemacht, sich auf das Feld des Rassismus zu begeben. Dazu gehören Kants furchtbare Ausführungen über den „schwarzen Mann“. Bei Thilo Sarrazin sind das die Gene: das Judengen und verschiedener andere wie das der Türken.
Die Bereitschaft, Abstriche von den Ideen der Freiheit, Gleichheit und der Brüderlichkeit zu machen, hat den vergangenen Jahren zur Kollaboration mit Diktatoren geführt und führt jetzt zur Ablehnung des Fremden. Daher wird die Aufnahme des Fremden nicht mehr als Aufgabe wahrgenommen. Stattdessen hat man es mit Ressentiments zu tun.
Das ist absolut richtig. Die sichtbare Andersartigkeit dient dem Bestreben, diese Menschen gar nicht erst nach Europa kommen zu lassen. Dadurch wird etwas ganz Entscheidendes übersehen: Kein normaler Mensch will freiwillig seine Heimat verlassen. Dazu kommt noch etwas anderes: Im Zeitalter des Internet und der E-Mails weiss jeder afrikanische Bürger, wie die Verhältnisse in einem Auffanglager für Asylanten in Deutschland und anderswo in Europa sind. Sie wissen, wie grauenhaft es dort aussieht. Sie wissen, dass sie kaum noch Bargeld bekommen, sondern nur noch Coupons. Wenn sie trotzdem in Scharen nach Europa kommen, dann muss das Leben in Afrika so viel schlimmer sein als die Verhältnisse in einem Auffanglager.
Was aber bedeutet das für die Politik? Auf der einen Seite interveniert der Westen militärisch
halbherzig
und fürchtet, in ein neues Afghanistan verwickelt zu werden. Auf der anderen Seite gibt es den Druck der Strasse gegen Integration. Ist Europa nicht gefangen? Wie kann es aus der Halbherzigkeit und dem Ressentiment herausfinden?
Deshalb sage ich, auch wenn es schmerzt: Lasst uns einen klaren Strich unter die Vergangenheit ziehen und neu anfangen. Lasst uns wirksame Massnahmen zur Integration von Migranten in Europa ergreifen. Wir brauchen eine neue Afrika Politik als Antwort auf die Winde der Hoffnung, die jetzt in Afrika wehen. Und wir sollten diesen Menschen auch ein Zeichen geben, ein Zeichen, das Europa hinter ihnen steht.
Sie selber tragen viel zum Verständnis der afrikanischen Kultur bei. Sind wir nicht alle aufgerufen, etwas dafür zu tun?
Natürlich. Und bedenken Sie, dass früher für das kulturelle Verständnis viel geschehen ist. Daran gilt es anzuknüpfen. Zum Beispiel gab es Institute, die in früheren Zeiten Deutschland weltweit berühmt gemacht haben. Die sind leider am Aussterben. Dazu gehören die so genannten Orchideenfächer. Was sagen Sie dazu, dass es in Deutschland Äthiopistik vor der Germanistik gab? Seit 1658 wurde in Deutschland, und zwar in Leipzig, Äthiopistik gelehrt.oder denken Sie an geniale Menschen wie Friedrich Rückert, die aus ihrem kleinen Kämmerlein in Coburg und in Schweinfurt weltbewegende Übersetzungen geschaffen haben. Seine Koranübersetzung ist bis heute eine der besten. Das hat dazu beigetragen, neue Länder und überhaupt Neues aus der Welt der Flora und Fauna zu entdecken. Diese Institute und Aktivitäten dürfen nicht verschwinden.
Wir haben noch nicht über die Goethe-Institute gesprochen.
In der Zeit, als man dabei war, Dutzende von diesen Instituten zu schliessen, hat China 110 neue Konfuzius-Institute gegründet.
*Asfa-Wossen Asserate, Prinz aus dem äthiopischen Kaiserhaus, wurde 1948 in Addis Abeba geboren. An der Deutschen Schule bestand er als einer der ersten Äthiopier das Abitur. Er studierte Geschichte und Jura in Tübingen und Cambridge und wurde in Frankfurt/M promoviert. Die Revolution in Äthiopien verhinderte 1974 die Rückkehr in seine Heimat. Er blieb in Deutschland und ist heute als Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten und als politischer Analyst tätig. Mit seinem Bestseller »Manieren« von 2003 erwies sich Asfa-Wossen Asserate als unnachahmlich scharfsinniger und humorvoller Beobachter von Sitten und Gebräuchen. Seine Autobiographie »Ein Prinz aus dem Hause David« erschien 2007. Neuere Titel: »Draußen nur Kännchen« (2010), »Afrika. Die 101 wichtigsten Fragen und Antworten«, (2010), »Integration oder die Kunst, mit der Gabel zu essen« (2011)