
US-Vizepräsident Vance verkehrt Fakten in ihr Gegenteil, Europa ist darüber entsetzt, Keller-Sutter lobt ihn dafür. Die Schweizerische Bundespräsidentin hat offensichtlich nicht verstanden, dass Vance mit einer Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz die Welt zugunsten autoritärer Oligarchien – China, Russland und neu jetzt offensichtlich die USA – neu geordnet hat. Und dabei Europa, eingeschlossen die «neutrale Schweiz», zum politisch ohnmächtigen Anhängsel der eurasischen Autokratien degradiert.
Die offiziellen Reaktionen der Europäer in München auf die Rede von Vance fielen entrüstet aus, schärfer als gegenüber Washington je zuvor in der diplomatischen Geschichte seit dem 2. Weltkrieg.
Die armen Rechtsextremisten
Die Medienkommentare waren noch eindeutiger, in informellen Kommentaren europäischer Politiker war gar unverblümt von totalem «bullshit» die Rede. Vance war ja in seiner Rede mit den demokratischen Parteien und den Demokratien von Europa hart ins Gericht gegangen, in der er die Wirklichkeit auf den Kopf stellte und die armen Rechtsextremisten in Europa als bedrohte Minderheit auf der Suche nach Meinungsfreiheit darstellte.
Erwartet worden waren klärende Worte von Vance Richtung Europa zum unmittelbar davor erfolgten Verrat an der Ukraine und der internationalen Rehabilitierung von Putin durch Trump. Nichts von alledem klärte er, im Gegenteil. Vance’ Rede liest sich als Plädoyer zugunsten der neuen Washingtoner Freunde in Europa: der AfD, Viktor Orbán, Eric Zemmour (der noch weiter rechts als Marine Le Pen steht), Nigel Farage (der britische Brexist und Rechtextremist) und anderen Totengräbern des Europa, wie es seit dem zweiten Weltkrieg besteht.
Nicht der Einzige, der alle moralischen Bedenken über Bord wirft
Vance hat in ferner Vergangenheit einmal ein vernünftiges Buch über Klassengegensätze in den USA geschrieben. Er hat damals Trump als Gefahr für die USA bezeichnet, nur um jetzt als Wendehals seinen Chef noch zu übertreffen. Man fragt sich, warum!
Im Gegensatz zu einigen der «Kleinkinder» in der aktuellen Umgebung von Trump 2.0 – man erinnert sich an den Ausspruch von Ministern in der Regierung von Trump 1.0, sie hätten sich als einzige «adults in the room» gefühlt, also die einzigen Erwachsenen im Kindergarten des Oval Office – wüsste es Vance wohl besser. Verlangen nach Macht und Geld dürfte hier die Triebkkraft sein, wäre doch Vance ohne Trump weder zunächst Senator, noch später gar Vizepräsident geworden. Nicht der Einzige in den USA, der alle moralischen Bedenken über Bord wirft, um sich halten zu können, wie dies verbleibende Republikaner alter Schule – man denkt an Zeiten von Reagan und den beiden Bushs – im Moment vormachen.
Elektroschock für Europa
In seiner gewohnten Manier, sich für Frankreich als Anführer eines unabhängigen Europa in Szene zu setzen, hat Präsident Macron Vance’ Rede als «Elektroschock» bezeichnet, um Europa aus dem 30-jährigen Traum der Friedensdividende zu wecken und die EU aus geopolitischer Trägheit aufzurütteln. Dies angesichts eines Russland von Putin, der seit langem plant, seine Aggression über die Ukraine nach Europa hineinzutragen und sich nun durch die Antritts-Geschenke von Trump – Ausschluss einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, dafür weitgehende Gebietskonzessionen ohne harte Sicherheitsgarantie für Kiew – in seinem Verlangen bestätigt sieht, mit Brachialgewalt ein postsowjetisches Osteuropa wieder herzustellen.
Wer das für überzogen hält, dem sei die Lektüre von Berichten und Kommentaren westeuropäischer Sicherheitsdienste und Sicherheitsspezialisten empfohlen. Wie etwa dem «Chatham House»-Experten für europäische Sicherheit, Keir Giles, der in seinem Buch «Who will defend Europe? An awakened Russia and a sleeping Europa» zum Schluss kommt, dass die Sicherheit Europas im Moment durch Putin mehr und nicht weniger gefährdet sei als vor 90 Jahren durch Hitler. Dies zu Beginn nicht unbedingt durch einen direkten militärischen Angriff, sondern durch hybride Zermürbungstaktik, um die Übernahme europäischer Staaten via russlandfreundliche Politiker vorzubereiten.
Eine «europäische Armee»
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat im Anschluss an die Rede von Vance eine «europäische Armee» beschworen, um Putin im Zaum zu halten. Was bis vor kurzem unmöglich erschien, könnte unter dem Hammerschlag von Trump doch langsam Form annehmen.
Frankreich, Polen, aber auch das unumgängliche EU-Nichtmitglied Grossbritannien seien laut verlässlichen Medienberichten bereits in entsprechenden Gesprächen involviert. Unter einem Kanzler Merz, eher als was man von Zauderer Scholz gewohnt ist, würde sich voraussichtlich auch Berlin, ebenso unumgänglich wie London, zu diesem harten Kern gesellen. Wenn eine solche Truppe zustandekommt, würde sich zweifelsohne auch Nordeuropa beteiligen, auch wenn man dort bisher eine amerikanische Teilnahme als unumgänglich betrachtet hat. Was seit der Rede von Vance nun als Illusion erscheint.
«Leider keine Zeit» für die Schweiz
Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter und Noch-Verteidigungsministerin Viola Amherd waren in München präsent als Vertretung der Schweiz, des doppelten Nichtmitgliedes von EU und Nato und damit offensichtlich einer Randerscheinung. Laut Medienberichten hätte Vance dem schweizerischen Gesuch um eine Unterredung ein «kä Lust», diplomatisch verbrämt als «leider keine Zeit» beschieden.
Wohl zum Glück, wäre doch schon in München anderen Europäern bekannt geworden, was Keller-Sutter anschliessend in einem Interview – dessen Substanz in allen TA-Medien und damit in der ganzen Schweiz verbreitet wurde – zum Besten gab. Es sei doch ermutigend, sagte sie, wie Vance sich «für eine direkte Demokratie» stark gemacht habe. Indem Keller-Sutter für Europa Positives aus Vance’ Rede mitnahm, dürfte sie eine seltene europäische Ausnahme darstellen.
Zum Glück nicht Genf oder der Bürgenstock
Angesichts einer solchen Fehlinterpretation fragt man sich, ob unserer Bundespräsidentin, die sicher auch in Bern die von Spezialisten erstellten Berichte liest, sich der katastrophalen Konsequenzen bewusst ist, was die Rede von Vance für das demokratische und dem Freihandel verpflichtete Europa in Sachen Sicherheits-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zur Folge hat.
Glücklicherweise scheint im Moment Riad und nicht Genf oder der Bürgenstock für ein Treffen Putin-Trump vorgesehen zu sein. Einmal müsste die Schweiz als Gründungsmitglied und Befürworterin des Internationalen Strafgerichtshofes ICC Putin auf Schweizer Boden als vom ICC angeklagter Kriegsverbrecher verhaften und wohl auch richten. Auch wenn diese Verpflichtung diplomatisch ausgedribbelt werden könnte, ist doch nicht anzunehmen, dass Genf die historisch belastete (Vertrag vom September 1939 zwischen der UdSSR und Nazideutschland über die Aufteilung Osteuropas) Rolle anstrebt, Ort eines Treffens zu sein, wo sich zwei Grossmächte über den Kopf eines Aggressionsopfers hinweg auf einen «Frieden» einigen.
Keine schweizerische Neutralität
Damit ist auch das in schweizerischer Optik einzig Positive angesprochen, was allenfalls aus dem Auftritt von Vance hervorgehen wird: Die Einsicht, dass es keine schweizerische Neutralität zwischen dem Aggressor Russland und dem Opfer Ukraine geben kann. Dies in jeder Hinsicht, auch was Lieferung von Waffen anbelangt, sei es indirekt oder auch direkt. Was zudem von einer potentiellen Armee Europas mit Blick auf den maximal nötigen europäischen Effort von der Schweiz eingefordert werden könnte.
Vielleicht wird damit «München 2025» dereinst in die Schweizer Geschichte eingehen als endgültiges Aufwachen aus dem allzu langen Traum «Neutralität dispensiert von Parteinahme». Leider scheint im offiziellen Bern, das im Sinne von Keller-Sutter nun auch via EDA «die amerikanische Friedensinitiative begrüsst», keinerlei Bereitschaft zu bestehen, aus dem hier allein aktuellen (Alb)traum von Neutralität im Ukrainekrieg aufzuwachen.