Die Unterzeichner (siehe unten) folgen einem Appell des französischen Philosophen und Publizisten Bernard-Henri Lévy. Der Orginaltext, am Samstag von der französischen Zeitung Libération veröffentlicht, wurde in verschiedene Sprachen übersetzt. Hier die deutsche Version.
„Die Europäische Union wird überall kritisiert, angepöbelt, verraten.
Angeblich sei es an der Zeit, ihr den Garaus zu machen, der Wiederherstellung einer vermeintlich abhanden gekommenen 'nationalen Seele' zuliebe, einer Identität, die oft nur in der Vorstellung von Demagogen existiert. Verabschiedung der Europäischen Union ist das gemeinsame Programm der populistischen Kräfte, die sich heute auf dem Kontinent breit machen.
Im Innern angegriffen von den Propheten des Untergangs, die im Vollrausch ihrer Ressentiments ihre Stunde gekommen glauben, losgelassen von den beiden grossen Verbündeten jenseits des Ärmelkanals und des Atlantiks, im 20. Jh. zweimal vom kollektiven Selbstmord gerettet, den immer weniger verhüllten Manövern des Kreml-Meisters unterlegen, bröckelt das Projekt eines freien, demokratischen Europas vor unseren Augen ab und droht an sich selbst zu scheitern. Und in diesem schädlichen Klima werden im Mai 2019 Europawahlen stattfinden, die zu den verhängnisvollsten werden könnten, die wir je gekannt haben, wenn wir uns nicht zur Wehr setzen gegen die Welle, die uns zu überrollen droht; wenn wir uns nicht schnellstens auf dem ganzen Kontinent mit neuem Elan zu Widerstand aufraffen gegen das Unheil, das als reale Drohung auf uns zukommt: Sieg der zerstörerischen Kräfte, Niederlage all derer, die sich dem Erbe des Erasmus, Goethe und Comenius verpflichtet fühlen, Verachtung von Intelligenz und Kultur; Eruptionen von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus: ein Horror.
Die Unterzeichneten erheben die Stimme gegen ein solches katastrophales Szenario. Zahlreicher als allgemein geglaubt, aber oft zu resigniert oder schweigend, gehören sie zu den europäischen
Patrioten, die wissen, dass ein dreiviertel Jahrhundert nach der Niederlage des Faschismus und dreissig Jahre nach dem Mauerfall das ’Kulturdach‘ unserer Zivilisation einer neuen entscheidenden Bewährungsprobe ausgesetzt ist. Das europäische kulturelle Erbe, dem sie sich verpflichtet fühlen und das sie weiterhin schützen wollen, die Überzeugung, dass allein die europäische Idee, die gestern die Kraft hatte, die kriegerische Vergangenheit unserer Völker zu überwinden, uns morgen vor neuen Formen des Totalitarismus und dessen finsteren Folgen bewahren wird – all dies verbietet es uns, die Hände in den Schoss zu legen.
Daher dieser dringende Appell.
Daher diese Aufforderung zur Mobilisierung am Vorabend einer Wahl, die wir nicht den Totengräbern preisgeben wollen. Und deshalb diese Ermahnung, die Fackel eines vereinten Europas brennend zu halten, das für freie Menschen aus aller Welt eine zweite Heimat bleibt, all seinen Fehlern, Unvollkommenheiten und gelegentlicher Feigheit zum Trotz.
Unsere Generation hat einen Fehler begangen. Wie die Garibaldianer im 19. Jh., die ihr Programm ’Italia fara da se‘ gebetsmühlenartig wiederholten, glaubten wir, die Einheit des Kontinents sei eine Selbstverständlichkeit, die weder des Willens noch der Anstrengung bedürfe. Wir lebten in der Illusion eines notwendigen Europas, das in die Natur der Dinge liege und für das man sich gar nicht erst engagieren müsse, da es sich auch ohne uns als ’Sinn der Geschichte‘ von selbst konstituieren würde. Mit dieser gutgläubigen Zuversicht müssen wir brechen. Ein laxes Europa ohne Schwung und Ideen dürfen wir uns nicht leisten.
Wir haben keine Wahl. Wo der Populismus brüllt, hilft nur ein vollmundiges Ja zu Europa, andernfalls man sich zu einem resignierten Zuschauen verurteilt. Wo ringsum Regierungen sich immer mehr auf ihre staatliche Souveränität versteifen, ist es Sache, sich für Europa zu engagieren.
Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn links und rechts die Ressentiments, der Hass und dessen traurige Auswüchse sich ausbreiten. Und wir müssen dringend Alarm schlagen gegen die Brandstifter, die von Paris bis Rom über Dresden, Barcelona, Budapest, Wien oder Warschau mit dem Feuer unserer Freiheiten spielen. Denn das ist, was zur Zeit gespielt wird: der Versuch, angesichts dieses neuen seltsamen europäischen Versagens, dieser hartnäckigen Krise des europäischen Bewusstseins, die liberale Demokratie und ihre Werte zu dekonstruieren und in Frage zu stellen und damit alles rückgängig zu machen, worauf wir – erstmalig seit den 1930er Jahren – in Europa mit Recht stolz sein dürfen, dem wir unseren Wohlstand verdanken und das uns zur Ehre gereicht.“
Die Unrterzeichner
Vassilis Alexakis (Athen) Svetlana Alexievich (Kiew) Anne Applebaum (Warschau) Jens Christian Grøndahl (Kopenhagen) David Grossman (Jerusalem) Agnes Heller (Budapest) Elfriede Jelinek (Wien) Ismaïl Kadaré (Tirana) György Konrád (Debrecen) Milan Kundera (Prag) Bernard-Henri Lévy (Paris) António Lobo Antunes (Lissabon) Claudio Magris (Triest) Ian McEwan (London) Adam Michnik (Warschau) Herta Müller (Berlin) Lioudmila Ulitskaya (Moskau) Orhan Pamuk (Istanbul) Rob Riemen (Amsterdam) Salman Rushdie (London) Fernando Savater (San Sebastian) Roberto Saviano (Neapel) Eugenio Scalfari (Rom) Simon Schama (London) Peter Schneider (Berlin) Abdulah Sidran (Sarajevo) Leila Slimani (Paris) Colm Tóibín (Dublin) Mario Vargas Llosa (Madrid) Adam Zagajewski (Krakau)
Übersetzung: Ard Posthuma