Ein Chaos droht nicht erst mit einem No-Deal-Brexit. Angerichtet ist es schon jetzt. Umfragen in Grossbritannien deuten seit einiger Zeit auf einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung hin. Würde heute abgestimmt, käme vermutlich ein Nein zum Brexit heraus. Vor diesem Hintergrund muss das britische Parlament über das Austrittsabkommen entscheiden, das die Regierung May und die 27 verbleibenden EU-Staaten gestern in Brüssel beschlossen haben. Der Spielraum ist eng begrenzt durch die von Jean-Claude Juncker wie von Theresa May bekräftigte Devise: dieses Abkommen oder keines. Dem Parlament in Westminster bleibt nur die Wahl zwischen drei schlechten Varianten: das Abkommen schlucken, einen Austritt ohne Deal riskieren oder auf den Brexit verzichten.
Ein Exit vom Brexit wäre innenpolitisch hochriskant. Unter Ausstiegs-Hardlinern ist das Thema in einer Weise nationalistisch aufgeladen und mit Glückserwartungen befrachtet, dass es kein Zurück mehr gibt. Womöglich noch gefährlicher wäre ein Ausstieg ohne Vertrag, weil er der britischen Wirtschaft gewaltige Schäden zufügte, was wiederum schwere soziale Verwerfungen nach sich zöge. Doch auch die von Theresa May vorgeschlagene Lösung birgt Risiken. Liesse sich Westminster darauf ein, das Abkommen gutzuheissen, damit in der bis 2020, allenfalls bis 2022 laufenden Übergangszeit alle Details des Austritts im Verhandlungsmarathon mit Brüssel geregelt werden können, so blieben immer noch sämtliche Schicksalsfragen vorerst einmal unbeantwortet.
Nur das explosivste dieser Themen sei kurz skizziert: das Nordirland-Problem. Für katholische Nordiren ist die dank beiderseitiger EU-Zugehörigkeit im Alltag nahezu aufgehobene Grenze zur Republik Irland eine Errungenschaft, die sie niemals preisgeben würden. Protestantische Nordiren hingegen können keine Regelung hinnehmen, die irgendwelche Schranken zwischen ihnen und dem übrigen Britannien errichtet. Beide Gruppen zufriedenzustellen – was beinahe der Quadratur des Kreises entspricht –, war einzig innerhalb der EU möglich; jede Form von Brexit hingegen macht die nordirische Schicksalsfrage prinzipiell unlösbar. Darüber können auch die im jetzigen Abkommen vorgesehenen Behelfskonstruktionen nicht hinwegtäuschen.
Der Brexit, wie immer er vollzogen wird, produziert auf allen Seiten nur Verlierer. Was zur Frage führt: Wie konnte das Land sich in diese Lage manövrieren? Die Antworten sind einerseits in der Geschichte, andererseits in der aktuellen Polit- und Medienszene zu suchen.
Um bei Letzterem zu beginnen: Nachdem Premierminister Cameron aus parteipolitischem Kalkül ein Referendum (das er zu gewinnen glaubte) über die EU-Mitgliedschaft angeordnet hatte, kam im Inselreich eine Dynamik in Gang, die viele überrumpelt hat. Befeuert wurde sie zum einen von politischen Hasardeuren wie Nigel Farage und Boris Johnson mit ihrem skrupellosen Stil der Auseinandersetzung, zum anderen von der in Britannien notorisch unzimperlichen Boulevardpresse sowie dem übrigen Medienimperium des Tycoons Rupert Murdoch.
Der von Murdoch erfolgreich kommerzialisierte britische Hang zum nationalistischen Draufhauen hat historische Gründe. Grossbritannien war die europäische Siegermacht des Zweiten Weltkriegs und hatte dafür einen unvorstellbaren Preis bezahlt. Der darauffolgende Niedergang des Kolonialreichs schlug zusätzliche Wunden und entzog den stolzen Briten den Weltmachtstatus. Gegenüber Kontinentaleuropa blieben sie auf Distanz. Churchill hatte in seiner Zürcher «Let-Europe-Arise»-Rede von 1946 für «eine Art von vereinigten Staaten von Europa» plädiert – wohlgemerkt ohne Einschluss seines eigenen Landes.
Der britische Weg zur EG und in derselben war holprig. Nachdem der französische Präsident Charles de Gaulle zweimal, 1963 und 1967, sein Veto eingelegt hatte, kam der Beitritt 1972 zustande. Bereits drei Jahre danach war er bereits wieder Gegenstand eines britischen Plebiszits; es ging allerdings deutlich positiv aus. 1984 dann trotzte Margaret Thatcher der EG unter der Devise «I want my money back!» einen Rabatt von zwei Dritteln auf den britischen Nettozahlungen ab. Von da an blieb London stets bei einer Position der Mitgliedschaft mit Vorbehalten. – Europa-Begeisterung sieht anders aus.
Nun ist aus Vorbehalten der Ausstieg geworden, höchst wahrscheinlich jedenfalls. Er macht alle zu Verlierern, und da man den Brexit und seine verschiedenen möglichen Realisationen stets mit Fragezeichen versehen muss, kommt zu allem Übel noch das Gift der Ungewissheit hinzu. Eine auch nur einigermassen passable Lösung ist nicht in Sicht. Camerons versuchter Befreiungsschlag im innerparteilichen Zwist wird zum Debakel für ganz Europa.