Ob man den Kontinent oder die EU betrachtet, das Bild ist getrübt. Dabei sollte Europa eigentlich erstarken, um in der von verschärften Konflikten gekennzeichneten Welt von heute und morgen bestehen zu können.
In Schweden eine rechtskonservative Regierung mit erstarkten Nationalisten. In Italien wahrscheinlich bald eine Regierungschefin, die mit nostalgischer Faschismus-Verharmlosung um rechte Wähler buhlt. In Ungarn eine selbstbewusst illiberale Führung, die in den Visegrad-Staaten, aber auch etwa in Slowenien eine beträchtliche Anziehungskraft entwickelt. In Polen eine Regierungspartei, die ihre nationalistische Agenda notorisch vor rechtsstaatliche Prinzipien stellt.
Dies einige der auffälligsten Risse im Innern Europas. Aber auch von aussen wirken destruktive Kräfte. Russlands und Chinas Einfluss auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeer richten sich direkt gegen die europäische Idee. Letztere hat, obschon sie etwa in Serbien und der Türkei trotz deren Mühen mit europäischen Werten noch immer attraktiv ist, einiges von ihrem Glanz verloren.
Von den grossen europäischen Ländern hat sich Grossbritannien aus dem gemeinsamen Projekt ausgeklinkt, Italien wankt und Frankreich könnte bei den nächsten Wahlen ausscheren. Deutschland als designierte europäische Führungsmacht fremdelt mit der ihm zugefallenen Rolle und erweist sich im Spiel der globalen Politik als Scheinriese. Das Bild Europas und der EU erscheint derzeit lädiert und ist ohne grosse Strahlkraft.
Zwar wurden in der EU und der Nato die Reihen gegen den russischen Aggressor mittels Sanktionen weitgehend geschlossen. Man klopft sich dafür in Brüssel auf die Schultern und hält die Rhetorik der europäischen Einheit und der Solidarität mit der Ukraine in Schwung. Doch bei der jüngsten State-of-the-Union-Rede der EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen am 13. September in Strassburg wirkte die erdrückende Menge der programmatischen Punkte – von der Bändigung des Strommarkts über Tierschutz, Bildungsoffensive, Weltraumstrategie, Cybersicherheit, Schutz vor verdeckter ausländischer Einflussnahme bis zur Korruptionsbekämpfung – eher angestrengt als zuversichtlich. Die Ratspräsidentin spielte ihre Rolle wie eine Musterschülerin, aber sie entfachte kein Feuer.
Europa und mit ihm die EU ist müde. Ohnmächtig schiebt man für das so dringend benötigte Erdgas dem sanktionierten Angreifer Milliarde um Milliarde rüber. Hilflos lässt man dessen Lügenkampagnen über sich ergehen. Die jahrzehntelange Schuldenwirtschaft fordert zunehmend ihren Tribut und engt die Handlungsmöglichkeiten ein.
Und doch braucht es dieses Europa mit der EU und seiner Einbindung in die Nato. So sehr das Reden von Wertegemeinschaft auch schal geworden ist, braucht es diesen Zusammenschluss. Nichts hat das so deutlich gemacht wie der russische Angriff auf die Ukraine und die dahinterstehende antiwestliche Propaganda. Es ist letztlich Putins Aggression, die den Europäern in Erinnerung gerufen hat, dass sie zusammengehören und zusammenstehen müssen. Nicht die etwas hölzerne Ratspräsidentin in Brüssel, sondern der ruchlose Kremlherr schaffen das Kunststück, das von Rissen und Brüchen gezeichnete Europa zusammenzuhalten. Noch ist es möglich, dass der Kontinent die Lektion lernt und sich dazu aufrafft, seine schönen Deklarationen mit Leben zu füllen.