Die traditionelle These war bislang, dass die Wahlen zum europäischen Parlament weder auf die Innenpolitik der EU-Mitgliedsländer noch auf die von der EU gemachte Politik Europas allzu grossen Einfluss hätten. Spätestens seit den Wahlen vom Wochenende könnte das Makulatur sein.
Das Resultat von Le Pens «Rassemblement National» (RN) in Frankreich, einem der zwei Ankerstaaten der EU, hat Macron – nicht nur Staatschef, sondern auch Kopf einer deutlich geschlagenen Partei – bewogen, unmittelbar Neuwahlen zum Parlament anzusetzen. Dies zum ungünstigsten Zeitpunkt: Die grossen Ferien ebenso wie die Olympischen Spiele in Paris stehen vor der Tür. Eigentlich sei nun momentan Schluss mit Politik, dachten die Franzosen. Nicht so, fand Macron und geht für sich, für Frankreich, ja ganz Europa ein enormes Risiko ein.
Die Le-Pen-Partei als Gewinnerin
Gewinnt die Rechte – wie dies zu befürchten ist – unter dominierendem Einfluss des Rassemblement National (RN) eine zur Regierungsbildung genügende Mehrheit, ist erstens Macron «toast», wie die schöne englische Redensart sagt, wenn sich jemand wie David Cameron beim Brexit-Referendum selbst verbrennt. Zweitens könnte damit in Frankreich der lange befürchtete politische Dammbruch nach rechts diesmal wirklich erfolgen. Und drittens würde dies ein direkter Verrat Macrons an Europa bedeuten. Jedenfalls am Europa, das ausgerechnet er immer wieder beschwört: ein gemeinsameres Europa, stärker in der Sicherheitspolitik, geeinigter in seiner Wirtschaftspolitik und global vorbildlich beim Klimawandel, um gegen die überseeischen Giganten USA und China auf der Weltbühne zu bestehen.
«Too clever by half» umschreibt wohl zutreffend wiederum ein englisches Bonmot das Kalkül im Elysée, wo man offensichtlich auf die Überrumpelung des politischen Gegners setzte und im schlimmsten Falle mit der Abnützung einer RN-Regierung bis zur nächsten Präsidentschaftswahl 2027 rechnet. Das erste ist mit der Schaffung eines «Front Populaire» links und mit der drohenden Zuwendung auch von Teilen der Gaullistenpartei «Les Republicains» zum RN auf der rechten Seite des politischen Spektrums bereits misslungen. Das zweite ist unsicher, könnte sich doch das RN weiter «entteufeln» oder im europäischen Kontext gesprochen, weiter «melonisieren», nach dem Vorbild, wie sich Georgia Meloni in Italien – ebenfalls grosse Siegerin der Wahlen – als politische Chefin im Moment zur «transatlantischen Europäerin» wandelt.
Verrat an Deutschland?
Heftig ist das Kopfschütteln über Macarons Schnellschuss wohl in Berlin ausgefallen. Bundeskanzler Scholz, bislang der zaudernde Gegenpol des europäischen Stürmers und Drängers in Paris, steht nun im Regen. Nach der ebenfalls vernichtenden Niederlage seiner Koalitionsparteien wurde spekuliert, dass er Macron mit der Ansetzung von Neuwahlen folgen könnte. Dies ist unwahrscheinlich, weil in Deutschland die Verfassungshürden dafür viel höher sind und weil mit der CDU/CSU ein durch die Europawahlen bestätigter konservativer Block besteht gegen die extreme Rechte der AfD, die sich zudem um einiges radikaler gebärdet und wohl auch ist als die französische RN.
Aber in Deutschland wird die Ernüchterung darüber gross sein, dass Macron in einem entscheidenden Moment für Europa – Putins Aggression, Chinas Drang nach Weltherrschaft und die drohende Präsidentschaft von Trump – sich so einseitig auf ein rein innenpolitisches Vabanquespiel einlässt, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für ganz Europa.
Die positive Seite der Bilanz
Das Ende von Europa, jedenfalls dem EU-Europa wie wir es kennen, muss dies allerdings nicht bedeuten. Was die Wahlen auch gebracht haben, ist auf der Gegenseite der rechten Nationalisten im Europaparlament, dass sich insbesondere in Skandinavien gemässigte Linke ohne Abneigung gegenüber der EU und auch der Nato durchsetzen konnten, dass in Polen Donald Tusk seine nationalistischen Gegner geschlagen hat und dass sogar im vom politischen Populisten Orban autokratisierten Ungarn ein demokratisch legitimierter Gegenspieler sich solide etablieren konnte.
Drei weitere Punkte sprechen dafür, dass ungezügelter Nationalismus im Europaparlament keinen entscheidenden Einfluss haben wird. Geld, viel Geld wird weiterhin von Brüssel kommen, was ja bekanntlich die Hauptmotivation von Giorgia Melonis beschriebener Wandlung darstellt. Wie das Chaos innerhalb der AfD gezeigt hat, sind rechtspopulistische Parteien zudem kaum je in der Lage, sich politisch vernünftig zu verhalten, zusammenzuarbeiten und damit für die breite Mitte von Wählern eine wirkliche Alternative darzustellen. Und drittens schweisst die nackte Aggression Putins in der Ukraine – und damit die Gefahr eines russischen Ausgriffs weiter nach Westen – alle Europäer zusammen.
Ausblick
Ein beherrschendes Thema im europäischen Parlament, wie natürlich auch in den Mitgliedstaaten, wird die Immigration sein. Hier stehen sich der rechtspopulistische Anspruch, Grenzen dicht zu machen und die offensichtliche Notwendigkeit nach mehr Arbeitskräften in Europa diametral entgegen. Wie dieses Tauziehen ausgehen wird, ist ungewiss. Immerhin hat Meloni – Chefin eines Landes, das in den wichtigsten Wirtschaftszweigen wie Landwirtschaft und Tourismus auch auf ungelernte Arbeitskräfte dringend angewiesen ist – sich hier deutlich gemässigt.
Noch ungewisser ist, ob die globale ESG(Environment, Social, Governance)-Rolle Europas weiterhin vom europäischen Parlament angetrieben werden wird. Jedenfalls beim Klima wird dies letztlich «von oben» entschieden: (Noch) mehr Hitze, Waldbrände, Überschwemmungen und weitere Naturkatastrophen werden wohl letztlich und entgegen dem Trend dieser Europawahlen eine Mehrheit überzeugen, dass bei diesem Thema das langfristige Überleben unseres Planeten auf dem Spiel steht.