Der Münsterplatz in Zürich jedenfalls ist nach der gelungenen Neugestaltung bestens herausgeputzt, um das Rednerpult aufzunehmen. Auch das Publikum liesse sich begeistern. Was noch fehlt, ist jene charismatische Person, die nicht nur kritisierte, beschönigte, beschwichtigte, sondern auch harte Reformen innerhalb der EU forderte. Solche sind längst überfällig.
Brexit als Weckruf
Heute, da die vereinigten nationalen Angstmacher die Medien beherrschen und die Populisten in ihrem Kielwasser Auftrieb erhalten, muss eine visionäre, mutige Europa-Geschichte neu geschrieben werden. Das Brexit-Drama als Folge populistischer Lockrufe ist Mahnmal und Weckruf zugleich.
Die geschürte Feindschaft gegen das „Establishment“ führte im Vereinigten Königreich zu einem grotesken Akt ökonomischer Selbstbeschädigung und gesellschaftlicher Selbsttäuschung. Das Grossmaul Boris Johnson, ein witziger und schlagfertiger Debattierer, ging nach monatelangen Hetzreden gegen Cameron und Brüssel am Tag nach der Abstimmung sogleich kleinlaut in Deckung. Die anderen sollen es richten. Aufwiegeln, Aufräumen und Aufbauen sind offensichtlich nicht kompatibel.
Eine nüchterne Situationsanalyse nach dem Brexit zeigt, dass diese Erschütterung und Schwächung der EU im schlimmsten Fall einen Dominoeffekt auslösen könnten. Offensichtlich sind einzelne Regeln der EU überholt. Die Gefahr einer Spaltung und eines Auseinanderbrechens wird immer akuter. Zur Erinnerung: Marine Le Pen zündelt mit ihrem Front national in Frankreich, in Spanien und Portugal sind als Folge der harten Auflagen gegen die notorischen Defizitsünder „Kriegserklärungen“ gegen die EU-Mitgliedschaft zu hören, Geert Wilders giftet in den Niederlanden. In Dänemark liebäugelt die rechtsnationale Volkspartei mit einem EU-Referendum, während in Italien Beppe Grillo gegen den Euro wettert – alles Zeichen des Vertrauensverlusts gegenüber der Institution EU. Von der Haltung einzelner osteuropäischer Mitgliedstaaten nicht zu reden.
Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die lauter werdende Kritik an der EU zum Teil fundiert ist und die offensichtliche Krise nicht länger übersehen werden darf.
Die EU in der Kritik und Krise
Im Nachhinein zu kritisieren, ist einfach. Trotzdem sollen einige Fakten geortet werden, die heute grosse Unstimmigkeiten und Probleme verursachen.
- Die flächendeckende Einführung des Euro basierte auf bewusster Fehlinformation. Als Beschleuniger der europäischen Integration gedacht, wirkt der Euro heute als gefährliche Langzeit-Hypothek. Joseph Stiglitz, der streitbare Ökonom, meint im „Tages-Anzeiger“ trocken: „Vielleicht sollte Europa den Euro aufgeben, um Europa zu retten.“
- Der Wachstumswahn versprach während Jahren mehr Wohlstand für alle, mehr Wirtschaft, mehr Mitgliedsländer. Gerade letzteres Phänomen gibt zu denken: Historische Rückblicke zeigen, dass Überdehnung als häufigste Ursache für den Untergang von Imperien gilt. Heute mündet dieses „mehr“ in mehr Unstimmigkeit, mehr Gehässigkeit, mehr Auseinanderdriften. Zu viele Beitrittsstaaten erweisen sich als renitente Familienmitglieder.
- Geschenktes Geld schafft bekanntlich falsche Anreize. Total 148 Milliarden Euro sind zwischen 2007 und 2015 für regionale Entwicklung aus dem Kohäsionsfonds und dem Europäischen Sozialfonds nach Ostmitteleuropa geflossen. Heute realisiert man, dass die EU-Hilfen unheimlich viel Korruption in diese Länder gebracht haben. Gemäss NZZ sind EU-Projekte in Ungarn besonders korruptionsanfällig.
- Jahrzehnte nach den euphorischen Gründerjahren fallen mehr und mehr nationale Regierungen in ein gefährlich egoistisches Verhalten zurück. Aus Brüssel nehmen, was passt, den Rest ignorieren, heisst dort die Devise. Die Ideen des Zusammenhaltens, des Kooperierens mit den anderen, des gemeinsamen Lösungsversuchs, der Friedenssicherung weichen einer fatalen und eitlen populistischen Aufgeblasenheit.
Flüchtlingswelle und Personenfreizügigkeit
Die Krise der EU manifestiert sich wohl am offensichtlichsten im Umgang mit der aktuellen Flüchtlingswelle. Einerseits weigern sich einzelne Mitgliedstaaten der EU schlankweg, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen – Schengen ist de facto längst ausser Kraft gesetzt –, bisher ohne Konsequenzen. Sieben Nationen machen zurzeit von den Ausnahmebedingungen Gebrauch. Das Dublin-Abkommen seinerseits ist extrem unausgewogen. Die darin vorgesehene Lastenverteilung funktioniert überhaupt nicht. Griechenland und Italien sind die Geprellten.
Die Personenfreizügigkeit und ihre „alternativlose“ Handhabung geraten unter Druck. Könnte es sein, dass die ökonomisch geprägte Marschrichtung mit ihrer schrankenlosen wirtschaftlichen Offenheit in vielen Mitgliedstaaten je länger je mehr auf Widerstand stösst? Dass die wirtschaftlichen Vorteile, die damit verbunden sind, vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit immer mehr verblassen? Der Ökonom Branko Milanovic weist in seinem Buch „Global Inequality“ darauf hin, dass zu starke Immigration den nationalen Konsens und den Wohlfahrtsstaat gefährden und zu einem allgemeinen Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Personenfreizügigkeit führen können.
Es wäre zu einfach, ausschliesslich Kanzlerin Merkel („Queen der EU“) zu kritisieren. Ihre Managementdevise des Abwartens gerät aber zu Recht immer mehr unter Druck. Hierzu meinte „Die Zeit“: „Das ist ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich – sie weiss immer genau, was nicht geht […] Doch ihre Politik des Abwiegelns, des perspektivlosen Durchwurstelns hat zur Folge, dass die EU den reaktiven Anpassungsmodus mit dem Verzicht auf politische Gestaltung bezahlt.“ Doch für die missliche Situation sind auch und vor allem jene nationalen Regierungen innerhalb der EU verantwortlich, die ihre Hausaufgaben seit Jahren sträflich vernachlässigen. Einige wollen nicht, andere können nicht.
Brüssel stellt sich taub
Seit Jahren fordern besonnene Kritiker der EU kontrollierte Schritte, um das sich abzeichnende Desaster zu vermeiden. Doch Brüssel scheint für solche bedenkenswerte Vorschläge schlicht kein Gehör zu haben. So wird denn – als Negativbeispiel – jegliche Debatte zur uneingeschränkten Personenfreizügigkeit verweigert. Über den Vertrag von Maastrich darf nicht diskutiert werden. Dieses System der Verweigerung ist kurzsichtig und gefährlich und könnte über kurz oder lang verheerende Folgen zeitigen.
Ein weiterer Punkt, bei dem die Diskussion verweigert wird, ist die ursprüngliche Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Die Überwindung der Nationalstaaten in Anlehnung an die Idee der Vereinigten Staaten von Amerika hat sich als unüberwindbares Hindernis erwiesen. In Europa hat die starke Bindung der Bürger an ihre Nation eine ganz andere und viel längere Tradition als im jungen Amerika. Jürgen Habermas konstatiert, angesichts der sich ausbreitenden Hasskampagnen in einzelnen Mitgliedstaaten, „dass die alles durchdringenden systemischen Zwänge einer ungesteuert ökonomisch und digital zusammenwachsenden Weltgesellschaft die Formen der sozialen Integration überfordern, die im Nationalstaat demokratisch eingespielt waren.“
Die Nationen wollen in vielen Details wieder mehr Kompetenzen – viele der absurden, gleichschaltenden Normen aus Brüssel weisen in die falsche Richtung. Die exakten Masse für Bananen oder Zigarettenpackungen, der Normenkatalog für WC-Abwassermengen, die Subventionsvorschriften für lokale Fussballclubs – der Regulierungsmoloch lässt grüssen. Dafür entstünde Platz für jene wesentlichen Reformschritte, die Europa im weltweiten Diskurs der Globalisierung stärken würden: Massnahmen, deren Realisierung die Einzelstaaten schlicht überfordern.
Die radikale Reform der EU
Zusammenfassend: Dem Drang zur Vereinheitlichung unwesentlicher Details ist zu widerstehen. Statt die Grundfreiheiten (freie Bewegung von Waren, Dienstleistungen, Personen, Kapital) immer weiter auszudehnen, wären diese durch eine Vertragsänderung im ursprünglichen Sinn zu straffen. Eine unbegrenzte Zuwanderung zu fordern ist in vielen Nationen kontraproduktiv, die Begrenzung muss eine (letzte) Option bleiben.
In den letzten Monaten haben viele ernsthafte kluge Köpfe Reformvarianten skizziert. So schlägt zum Beispiel Jakob Kellenberger in der NZZ vor, darüber nachzudenken, „statt der immer grösseren, trägeren, schwer reformierbarbaren EU […] eine neue, kleinere, eine anspruchsvollere, eine wirkungsvollere und eine unabhängigere EU zu schaffen.“
Der Thinktank Bruegel in Brüssel denkt laut darüber nach, dass die Idee einer kontinentalen Partnerschaft – mit Teilnahme am EU-Binnenmarkt, aber ohne die Personenfreizügigkeit – immer aktueller würde. Dieses Modell wäre nebst Grossbritannien auch für andere Staaten denkbar (Schweiz, Norwegen?).
Bruno S. Frey bringt in der NZZ das System problemorientierter politischer Körperschaften in die Diskussion, einer neuen Form des Föderalismus sozusagen. Diese Reform-Chance käme einer grundlegenden Weiterentwicklung des „Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ gleich – von unten statt von oben entwickelt.
Ein Perspektivenwechsel bei den führenden Persönlichkeiten an der Spitze der EU ist überfällig. Es darf und muss mehr in Alternativen gedacht werden. Wenn sich die Zeiten ändern, müssen auch Konzepte umgeschrieben werden. Damit werden keine ursprünglichen Ideen verraten, sondern, im Gegenteil, deren Gesamtheit und Hauptziele in der gegenwärtigen hektischen Zeit gestärkt. Im Sinne eben von „Let Europe arise, once again!“