Immer lauter hagelt es Kritik an der Ökonomie. Jene Kreise, die darin eine gesellschaftliche Leitwissenschaft sehen, der sich fast alle Bereiche des Lebens und der Gesellschaft zu unterwerfen haben, ahnen, dass diese über 80-jährige Interpretation Risse bekommt.
Die Eiferer unter den Verfechtern ökonomischer Theorien bringen uns nicht weiter. Sie berufen sich auf Adam Smith, Milton Friedman oder John Maynard Keynes und legen deren unterschiedlichen Theorien wortreich – aus dem verengten Blickwinkel des Jüngers, der seinem Vorbild nacheifert – aber viel zu einseitig aus. Nicht selten enden diese Diskussionen im alten, verstaubten Links-rechts-Streit. Einen zeitgemäßeren Ansatz vernehmen wir von Deirdre McCloskey (Ökonomin an der Universität von Illinois in Chicago und Professorin für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Göteburg, Schweden).
Die neue Wertediskussion
Die temperamentvolle Professorin (Jahrgang 1942), die im März 2012 am Collegium Helveticum (Uni Zürich) auftrat, ist Ökonomin, Historikerin, lehrt u.a. Wirtschaftsgeschichte und ist rhetorisch nicht unbegabt. Ihr Ansatz: Ökonomie kann die moderne Welt nicht erklären. Zu diesem Schluss gelangen auch andere Historiker, Politikwissenschaftler oder Philosophen. Grund der aktuellen Verwirrung: Ethik ist im Zuge der Nutzenmaximierung vielerorts aus der Ökonomie verschwunden. Adam Smith („Wohlstand der Nationen“) wird lückenhaft verstanden, wie es eben Menschen zu tun pflegen, die nicht ganzheitlich denken können oder wollen. „Smith wollte ein drittes Buch schreiben über Gerechtigkeit. Dazu kam es aber nicht. Seine beiden Bücher rücken menschliches und wirtschaftliches Verhalten in einen ethischen Kontext. Seine Nachfolger verloren dies aber allmählich aus den Augen. […] Den Leuten wurde gelehrt: Gier ist gut. Wenn es Anreize gibt, viel zu verdienen, dann sollt ihr dies auch tun, weil es gut ist für die Gesamtwirtschaft. […] Obwohl dieses Denken falsch ist, wurde es zur Ideologie an modernen Business-Schulen – mit desaströsen Effekten“ (NZZ, 12.4.2012). McCloskey ist überzeugt, dass es auf die Werte – oder was Menschen darunter verstehen – ankommt.
Ökonomie der sieben Tugenden
Warum gründen clevere Menschen Firmen, die der Gesellschaft nützen oder werden andere zu Oligarchen, die ihr Land ausplündern? Warum sind Beamte hier fair und ehrlich, dort aber bestechungsanfällig? Warum kämpfen Manager mit hohem Einsatz und Anspruch an sich selbst – oder nur für sich selbst? McCloskeys Theorie: Ökonomie sollte sieben Tugenden umfassen, die da wären: Eigennutz, Mäßigung, Liebe, Gerechtigkeit, Mut, Hoffnung, Glaube. Wäre dies der Fall, dann, tatsächlich, würde der Markt wie eine unsichtbare Hand wirken. Doch was haben Generationen von Managern gelernt? Die Wirtschaftswissenschaft lehrte: Egoismus ist gut, weil die unsichtbare Hand des Marktes alles zum Rechten wendet. „Diese einseitige Interpretation von Smith könnte also auch jene Wertevorstellungen beschädigt haben, ohne die Smith zufolge eine Marktwirtschaft auf Dauer nicht funktionieren kann“ (DIE ZEIT, 14.8.2013).
Zugegeben, dies alles tönt sehr tugendhaft. Wo gibt es schon eine Gesellschaft ohne Korruption, Gier, skrupellose und machtbesessene Manager oder gar mafiöse Verstrickungen? Was ist aus den ehrbaren Kaufleuten von damals geworden, die es sicher auch gab? Hat die Globalisierung unsere Werte aus dem Gleichgewicht gebracht? Smith‘s erstes Buch trug den Titel: „Theorie der ethischen Gefühle“, ohne das sein zweites, oben erwähntes, nicht verhandelbar ist. Smith selbst war davon überzeugt, dass nur beide Wertevorstellungen gemeinsam funktionieren können.
Bürgerliche Tugenden schaffen Wohlstand
Gelungenes menschliches Zusammenleben basiert auf jenen sieben primären Tugenden, die seit Jahrtausenden überliefert und bekräftigt werden. McCloskey äußerte sich weiter zur Rolle der Wirtschaft. „Die Erkenntnis, dass unsere moderne Welt von ethischen Ideen angetrieben wird, ändert notwendigerweise auch den Blick auf unsere Wirtschaft und die Lehre von ihr“ (Schweizer Monat, Mai 2012). In diesem Beitrag sind die bereits erwähnten Tugenden genauer beschrieben, allerdings mit einem kleinen Unterschied. Eigennutz fehlt, dafür steht Klugheit auf der Liste. Zufall?
Ohne diese sieben Primärtugenden verfehlt unser Leben seinen Sinn (Aristoteles). Es ist jedoch das Gleichgewicht aller, das Erfolg verheißt. McCloskey beobachtet scharf und diagnostiziert ebenso. Wenn sogenannte Meinungsmacher seit Jahrzehnten diese bürgerlichen Tugenden wortgewaltig schlechtmachen, rät sie, nicht auf sie zu hören. Stattdessen sollten wir diese Tugenden trainieren. Dafür gibt es im Fitnesspark allerdings weder Power Plate, noch Dynamic Yoga. Doch wir sollten von den rationalen mathematischen Modellen vergangener Jahrhunderte wegkommen. „Wir brauchen nicht die Maximierung einer einzelnen Variablen für unser Leben. Wir müssen ganzheitliche Menschen werden“ (NZZ).
Dieser Ratschlag hat Gültigkeit für uns alle. Für Gesellschaft, Politik und Ökonomie.
Über den Tellerrand blicken
„Der Ökonom, der nur Ökonom ist, [kann] leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer regelrechten Gefahr werden“, meinte Karen Horn vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (NZZ 3.8.2010). Sie wirft den neoklassischen Ökonomen vor, ideale Modellwelten entworfen zu haben, mit denen die Realität nicht viel gemein hat. Sie rät der heutigen Generation von Ökonomen, sich damit zu befassen, was aus dem gemeinsamen Tun von Menschen resultiert. Dafür gibt es bereits eine Wissenschaft: „Science of association“ (Wissenschaft des kooperativen Menschenbildes), jener Lehre vom gemeinsamen Tun, oder: vom Immer-wieder-sich-Zusammentun für einen gemeinsamen Zweck. Auch das nur eine idealistische „Sonntagspredigt“?
Horn beklagt, dass die ökonomischen Modelle zwar immer raffinierter und komplexer würden, dass dadurch jedoch der Blick auf das große Ganze abhanden gekommen sei und Werte verloren gegangen wären. Dazu gehörte einst auch die Meinung, dass ökonomische Fragen als Teilfragen des gesellschaftlichen Lebens angesehen wurden, nicht umgekehrt.
Wer also der Frage nachgeht, ob ökonomische Werte in Vergessenheit – sozusagen aus der Mode – geraten sind und deshalb, als Beispiel, seit 2008 eine nationale Finanzkrise nach der andern westliche Gesellschaften erschüttert, stellt einigermaßen perplex fest, dass diese „Gedächtnislücke“ ihren Ursprung bereits im Wandel unseres gesellschaftlichen Werteverständnisses hat. Könnten wir Eigennutz (als Tugend) ab und zu durch Klugheit ersetzen? Unser Verlangen nach immer mehr mäßigen? Angst vor Job- und Geldverlust mit mehr Mut und persönlicher Risikobereitschaft austauschen? Könnten jene Übermenschen, die für sich zweistellige Millionenbezüge rechtfertigen, über Gerechtigkeit als Kardinalstugend nachdenken?