Aus Enttäuschung über die Situation seiner Zeit, über den immer sichtbarer werdenden Zerfall des Staates, der politischen Intrigen und bösen Absichten, wurde er zum Philosophen. Ungerechtigkeit und Korruption beherrschten damals die Politik. Als gar Sokrates, sein hochgeschätzter Lehrer, zum Tod verurteilt wurde, machte er sich auf die Suche nach der Gerechtigkeit. Denn diese hielt er für das Fundament des Staatswesens. Die Rede ist von Platon , dessen großartige denkerische Leistung 2400 Jahre überlebt hat. Ja, sie wirkt in ihrer Aktualität brennend und beklemmend nach. Das rechte (heute: ehrliche, ethische, gute) Verhalten sei ursprünglich in jedem Menschen als „Leitbild“ angelegt gewesen. So lautet eine seiner Theorien.
Alles gründet auf Platon
Wer darüber – in Zeiten der weltpolitischen Krisen, Immobilienblasen, Bankendebakel und Populisten – nachdenkt, kommt ins Grübeln. Hat inzwischen die Idee des Guten den Kürzeren gezogen gegenüber der Idee des eigenen Profits? Genau deswegen lohnt sich der Blick zurück. Die „Akademie“ – von Platon 385 v. Chr. gegründet – bestand während über 900 Jahren. In dieser Schule führte Platon Sokrates’ Vermächtnis weiter: Die Errichtung eines Gedankengebäudes (z.B. der Ideenlehre ), das aus heutiger Sicht der abendländischen Geschichte ein „Geburtshaus“ gab, ist nachhallend, ja nachhaltig und eindrücklich. „Alle abendländische Philosophie ist als Fußnote zu Platon zu verstehen.“
Man darf Platon natürlich nicht mit dem Denken von heute beurteilen. Seine Zeit war jene der großen politischen und moralischen Unsicherheit während des Peloponnesischen Kriegs. Die Bevölkerung war hin und her gerissen zwischen Demagogen und Sophisten. Alles schien denkbar. „Everything goes“, sagen auch heute viele. Und nicht wenige machen keinen Unterschied zwischen Demagogen und Sophisten. Letztere setzten sich vor allem dank ihrer ausgefeilten Redekunst, der Rhetorik, in Szene. Damals wie heute gelang es ihnen, Menschen zu Fehlschlüssen zu veranlassen.
Lobbyisten lenken die Demokratie
Doch Platon brachte mit seiner Ideenwelt schon mal etwas Ordnung ins Ganze, indem er drei Ebenen definierte:
- Die Wissenschaft, das vollkommene Verstehen unveränderlicher Konzepte;
- die Meinung, also die unterschiedlichen Urteile;
- die Unwissenheit, die Folge des In-den-Tag-hinein-Lebens, ohne nach dem Sinn der Dinge zu fragen.
Und heute? Viele wissen nicht mehr zu trennen zwischen Meinung und Wissenschaft. Lobbyisten aller Schattierungen und Auftraggeber lenken aus dem Hintergrund die Demokratie (z.B. CH, EU oder USA). Sie „beweisen“ der staunenden Bevölkerung, dass ihre Meinung als alternativlos zu betrachten sei. So genannte wissenschaftliche Analysen sollten dies untermauern. Damit landen wir auf der dritten Ebene: Die Mehrheit der unpolitischen Bevölkerung glaubt ihnen.
Der Aristokrat Platon, kein Freund der Demokratie (nach seinen oben geschilderten Erfahrungen verständlich) oder der Diktatur, verfasste mit der Politeia sein eigenes Bild eines Idealstaats. War er gar ein Utopist? Dennoch sind einzelne Bruchstücke seiner Staatslehre (Erziehung) bemerkenswert. Urteilen Sie selbst, wie modern das tönt:
Elementarerziehung durch Musik, Dichtung und Sport,
Ausbildung in Mathematik, Astronomie und Harmonielehre,
Unterweisung in Didaktik (Philosophie).
Heute kämpfen wir gegen die Sanierer der Nation, die beim Musik- und Sportunterricht „Sparpotenzial“ orten; von Astronomie- oder Harmonielehre wollen wir schon gar nicht sprechen und die Didaktik wird inzwischen, ohne dass viele Lehrkräfte das überhaupt bemerkt haben, im Internet laufend neu definiert.
Moderne Kardinaltugenden
Andere von Platons Befunden wirken heute überholt. Als Dualist grenzte er Leib und Seele scharf voneinander ab. Es ist müßig, darüber zu streiten. 2400 Jahre Wissenschaft sollten schließlich neue Erkenntnisse erlauben. Doch wenn Platon die Qualität der Seele selbst wieder in drei Teile gliedert – warum nicht lesen, in welche? Zuoberst: Vernunft, Weisheit In der Mitte: Mut, Tapferkeit Zuunterst: Begierde, Mäßigung.
Diese Kardinaltugenden sind ungebrochen modern. Sind es deshalb Utopien?
Mein Verständnis zum wissenschaftlichen Fortschritt ist eindeutig. Er braucht nicht die Kritik an den Vorgängern, jenen Suchenden, die in einer völlig anderen Welt lebten. Gerade die alten Philosophen wie Platon „erfanden“ Neues. Sie rückten ab von der Götterwelt ihrer Vorfahren. Jetzt fragen wir uns zum Beispiel: Können wir uns rechtzeitig absetzen von der globalisierten Götzenwelt des falsch verstandenen Kapitalismus? Was „erfinden“ unsere Akademien? Wer legt eine solide Basis, um die neue Welt zu verstehen?
"Die üblen Unkräuter der Propaganda"
Die Leuchtkraft der Akademie Platons vor den Toren Athens ist erstaunlich. Deren Ziel war und ist ungebrochen, zeitlos: Die Übung des Geistes Jugendlicher im selbständigen Denken. Dabei spielte die Mathematik eine große Rolle. Wichtig: Schon damals scheint begriffen worden zu sein, dass Lernen nicht im Auftischen von festem, altem Wissen besteht. Die Förderung des unabhängigen Denkens ist eine der Hauptkriterien der Universitäten. Bertrand Russel meinte dazu: „Denn wo unabhängiges Denken abstirbt, ob aus Mangel an Mut oder durch innere Zuchtlosigkeit, wuchern ungehindert die üblen Unkräuter der Propaganda und des Dogmatismus.“
Ergänzend wäre zu vermuten, dass heute bei der Beurteilung von Geschäftspraktiken multinationaler Konzerne (z.B. Steuervermeidung als ökonomische Tugend) oder von Leitsätzen neoliberal geprägter Politiker (z.B. Steuersenkungen um jeden Preis), Kritik zu schnell als linke Propaganda abgetan wird. Schade, dass gerade Menschen von Macht und Verantwortung, dem angelernten Mainstream-Denken folgend, diese Ganzheit aus den Augen verloren haben.
Raum und Zeit als vierdimensionales Koordinatensystem ist seit Albert Einstein Basis der neuen Physik. Und die Ökonomie? Sie bewegt sich teilweise noch in einer monströsen Zeit pervertierter Auswüchse (z.B. des Finanzsystems), für die wir gar keine akademische Bezeichnung gefunden haben. Die Suche nach dem „rechten Verhalten“ geht weiter. Obwohl Ethik als Studienfach aus der Mode gekommen ist.
Weltliche Moral?
Oder zeichnet sich da eine Renaissance ab? Sam Harris, unbequemer Denker aus den USA, bringt mit seinen Gedanken ein modernes Update in den alten Begriff der Ethik. Er plädiert dafür, dass wir bei der Ursachenforschung für unser Handeln vermehrt neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen vertrauen sollten. In der Ethik haben wir es mit Lebensfragen zu tun. Wie sich im menschlichen Gehirn Gedanken bilden, ist abhängig von erlebten faktischen Gegebenheiten und wie unser Verhalten die Welt beeinflusst, ist wissenschaftlich erforschbar. Könnten wir auf diese Weise eine Art weltlicher Moral definieren und uns erneut auf die Suche nach dem „in uns angelegten Leitbild“ begeben?