Der Präsident hat gesprochen. Ein viertes Mal mit dem üblichen Zeremoniell, am Ende eines Osterwochenendes, das keines war. Keine Messen in den Kirchen und im Prinzip keine Familienzusammenkünfte mit dem obligatorischen, mindestens vierstündigen Mittagsmahl am Ostersonntag. Trotzdem war zuvor hier in Dieulefit auf dem Markt am Karfreitag und beim Metzger in der Hauptgasse so gut wie kein Lammfleisch mehr zu finden. Merkwürdig, oder?
Präsident Macron gab sich am Abend des Ostermontags vor sage und schreibe 37 Millionen Fernsehzuschauern – mehr als jeder zweite Franzose sass vor dem Bildschirm – ausgesprochen demütig, gestand Fehler der vergangenen Wochen unumwunden ein, begann mit der Umschreibung der düsteren Tage, die man gerade erlebe, verneigte sich Minuten lang vor den Berufsgruppen der bisher Unbeachteten, die den Laden Frankreich weiter am Laufen halten und vor denen, die tun, was sie können, um Leben zu retten und beendete seine Ansprache nach 28 Minuten mit der Hoffnung auf glücklichere Tage.
Es war, wie bei Emmanuel Macron sehr oft, eine gute, fast perfekte Rede, an deren Ende sich aber auch diesmal wieder viele Franzosen fragten, ob überhaupt und wenn ja, welche Taten daraus folgen werden. Ganz abgesehen davon, dass Präsident Macron mittlerweile sagen kann, was – und so gut reden kann, wie er will –: bei einem Teil der Bevölkerung findet er einfach kein Gehör mehr und musste sich aus dieser Ecke schon Tage vor seinem Fernsehauftritt für noch gar nicht Gesagtes verspotten lassen.
Mit Blick auf die Zeit danach sprach das Staatsoberhaupt den von allen Medien aufgegriffenen Satz: „Man muss die vorgezeichneten Wege der Ideologien verlassen und alle müssen sich neu erfinden, ich zuallererst.“
Das hört sich in dieser Krisensituation zunächst mal gut an und kann im Prinzip viel bedeuten. Wie darf man das verstehen? Will der Präsident, nach all den neoliberalen Einschnitten der letzten drei Jahre, plötzlich eine neue „Neue Welt“ anstreben, mit anderen Worten zur alten zurückkehren und etwa all die abgespeckten öffentliche Dienste wieder restaurieren? Sind diese seine Worte als Plädoyer für mehr Staat und für mehr Umverteilung zu verstehen?
Wie auch immer, fünf Tage sind seit dieser Rede vergangen.
„Et pendant ce temps-là ...“ – Währenddessen ...
… ist schon die nächste Polemik ausgebrochen. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, welcher den Präsidenten in der Coronakrise berät, erklärte zwei Tage nach Macrons Fernsehansprache, rund 17 Millionen Franzosen würden nach Aufhebung der Ausgangssperre am 11. Mai von der dann langsam beginnenden Normalisierung ausgeschlossen bleiben. Dabei handle es sich um Bürger über 65 oder 70 und um schwer Übergewichtige.
Empörung hier, erste Petitionen dort gegen Diskriminierung von Senioren und Fettleibigen, ja gegen den zentralstaatlichen Autoritarismus dieses Präsidenten. Plötzlich war es, als würden die Nerven der Älteren nach vier Wochen Ausgangssperre und vier Wochen vor ihrem angekündigten Ende besonders blank liegen.
Prompt musste Macron den Feuerwehrmann spielen und erklären lassen, dass er sich bei der Aufhebung der Ausgangssperren nach dem 11. Mai keine altersbedingten Differenzierungen wünsche. Prompt meinten böse Zungen, der Präsident habe sich in erster Linie wegen seiner Ehefrau und ihrem fortgeschrittenen Alter zu dieser Erklärung entschlossen.
Währenddessen ...
… sorgt auch die Ankündigung, wonach zunächst Kindergärten und Grundschulen, danach Mittelschulen und Gymnasien nach dem 11. Mai wieder öffnen sollen, für Verwirrung, Protest und Kritik. Warum die kleinen Kinder vor den Grösseren, fragen die einen. Das Ganze mit oder ohne Schutzmasken und wenn ja, werden diese dann auch endlich da sein, fragen die anderen. Bürgermeister von Grosstädten wie Montpellier oder Lille, in deren Verantwortungsbereich Kindergärten und Grundschulen fallen, signalisierten fast umgehend, dass sie nicht wüssten, wie sie die Wiederaufnahme des Betriebs unter Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen organisieren sollten. Der arme Erziehungsminister rudert derweil in dichtem Nebel, lässt den grossen Durchblick vermissen und bleibt konkrete Antworten schuldig.
Währenddessen …
… wird immer deutlicher, dass das Aufrechterhalten des ersten Durchgangs bei den Kommunalwahlen am 15. März zahlreiche Opfer gefordert hat. Langsam aber stetig lösen sich die Zungen. Vier Bürgermeister sind durch Covid-19 inzwischen verstorben, aberhunderte Gemeinderäte infiziert, dasselbe gilt für viele Wahlhelfer. Besonders betroffen scheinen diejenigen, die auch am Abend ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nachgekommen waren und beim Auszählen der Stimmzettel geholfen haben.
Währenddessen …
… treibt die Dickköpfigkeit, ja der offensichtliche Machtmissbrauch mancher Gendarmen bei den Kontrollen der Einhaltung von Ausgangssperren zum Teil erschreckende Blüten. Ein 60-Jähriger hatte sich, versehen mit allen Attests und nötigen Dokumenten, auf die 400 Kilometer lange Fahrt zu seinem sterbenden Vater auf der île de Ré, westlich von La Rochelle, gemacht. Eine erste Kontrolle beim Verlassen der Autobahn hatte er problemlos überstanden. Doch dann, bei der Ankunft auf der Insel, nach dem Überqueren der langen Brücke vom Festland her, sollte das Drama seinen Lauf nehmen.
Der diensthabende Gendarm wollte von all den Dokumenten und Bestätigungen, die der Mann bei sich führte, nichts wissen und weigerte sich beharrlich, ihn zu seinem sterbenden Vater weiterfahren zu lassen. Fünf Stunden lang dauerten die peniblen Verhandlungen, selbst Lokalpolitiker schalteten sich ein, erklärten, dass der alte Mann nicht in einem Heim, sondern zu Hause betreut werde und kurz vor dem Ableben stehe – vergeblich. Nach fünf Stunden resignierte der Sohn und trat die Rückreise an. Vier Tage später war sein Vater tot.
Währenddessen ...
… wurde auch bekannt, was bislang geheim blieb und beim Geheimdienst des Landes in seiner hochgesicherten Zentrale im Pariser Vorort Levallois eingetreten ist. Im 8. Stock, ausgerechnet in der Chefetage, sind gleich mehrere Abteilungsleiter positiv getestet worden. Plötzlich herrscht Panik unter den rund 1200 geheimen Mitarbeitern. Ihr Arbeitsort ist derart gesichert, dass sich nirgendwo ein Fenster öffnen lässt und dieser somit ein perfekter Inkubationsherd für das Virus ist ...
Währenddessen …
… ist auch das Flaggschiff der französischen Marine, ihr einziger Flugzeugträger, im Coronatrubel angekommen. Kleinlaut ist die schwimmende und überbewaffnete Kleinstadt „Charles De Gaulle“ dieser Tage mit ihren 2’000 Besatzungsmitgliedern im Mittelmeerhafen von Toulon eingelaufen, mit über 1’000 Coronainfizierten an Bord!
Entsetzen, Empörung, Rufe nach parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, Suche nach Schuldigen und Verantwortlichen. Die Verteidigungsministerin wirkt alt und blass. Dabei ist eigentlich alles ganz simpel.
Der stolze Flugzeugträger hatte zwischen dem 13. und 16. März in Brest angelegt, ein Grossteil der Besatzung war an Land gegangen, hatte Frau, Kinder oder Eltern getroffen oder die Zeit in Hafenkneipen verbracht, bevor man am 16. März – noch bevor am Abend die Ausgangssperre verhängt wurde – den bretonischen Hafen wieder verlassen hatte. Alle, die nun aufschreien, bräuchten sich ja nur daran erinnern, dass am 15. März rund 20 Millionen Franzosen noch in die Wahllokale gegangen sind und am Vortag, am 14. März, nach Ankündigung der Schliessung von Bistrots und Restaurants ab dem nächsten Morgen, in den Beizen bis weit in die Nacht hinein noch ein letztes Mal und fast bis zum Umfallen getrunken wurde. Die Matrosen des Charles de Gaulle haben nicht mehr und nicht weniger getan als Millionen andere Franzosen auch. Mit dem Unterschied, dass in den Tagen danach ihr Arbeitsort mit beengtem Lebensraum offensichtlich eine perfekte Brutstätte für das Virus war.
Währenddessen ...
…. blüht angeblich das Denunziantentum und die schlichte Dummheit im Land, was so manchen an die dunklen Jahre des Vichy-Regimes erinnert. Der Bürgermeister im 20. Pariser Arrondissement musste die Bevölkerung sogar dazu aufrufen, mit dieser unschönen Praxis Schluss zu machen, weil die Notrufnummer bei der Pariser Polizeipräfektur unter den zahlreichen Anrufen über angeblich oder tatsächlich unkorrektes Verhalten von Nachbarn völlig überlastet war.
Besonders unappetitlich sind in diesem Kontext Anfeindungen, die Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger in ihrem häuslichen Umfeld zu ertragen haben – nach langen Arbeitstagen, in denen sie damit beschäftigt waren, Leben zu retten. 12% der Krankenschwestern sind laut einer Untersuchung in den letzten Wochen mindestens ein Mal bedroht oder beschimpft worden. Das geht von anonymen Aufforderungen in ihren Briefkästen, sie würden das Virus einschleppen und möchten gefälligst anderswo hin ziehen bis hin zu hässlichen Schmierereien im Treppenhaus. Eine frei schaffende Krankenschwester im Departement Oberrhein, das von der Pandemie ganz besonders betroffen ist, hat bei ihren täglichen Touren von Patient zu Patient wiederholt Zettel an der Windschutzscheibe ihres Autos gefunden. An einem Tag wurde sie aufgefordert, doch verdammt noch mal anderswo zu parken. Am nächsten Tag schrieb ein besonders grosser Kleingeist dann sogar: „Wenn Sie noch einmal in unser Viertel kommen, zeige ich sie bei der Polizei an.“
Währenddessen …
… dürfte die Coronakrise den öffentlich-rechtlichen Fenrsehkanal „France 4“ gerettet haben, der im Namen eines Reformgesetzes hätte wegrationalisiert werden sollen. Jetzt in der Krise hat France 4 aber die Ärmel hoch- und sein Programm umgekrempelt, es mit Schulstunden und Fernunterricht gefüllt und auf diese Art täglich über zwei Millionen Zuschauer an Land gezogen, darunter viele verzweifelte, inzwischen überaus dankbare Eltern, die mit dem Hausunterricht ihrer Kinder völlig überfordert sind. Kaum vorstellbar, dass die Regierung es jetzt noch wagen kann, diese Fernsehstation nach Ende der Corona-Krise tatsächlich zuzusperren ...
Währenddessen …
… vergleichen immer mehr Akteure den weltweiten Kampf um Schutzmasken mit Zuständen, wie einst im Wilden Westen.
Französischen Regionen wurden bereits vor Wochen Lieferungen noch auf dem Flugfeld einer chinesischen Stadt weggeschnappt, von amerikanischen Dunkelmännern, die dort mit dicken Geldkoffern unterwegs waren und den drei- oder vierfachen Preis bezahlten. Eine französische Region hat 6 Millionen Euro in den Sand gesetzt, weil sie ihre bestellte Lieferung schlicht nie erhalten hat.
Der Gipfel beim Run auf das teure Gut: Israel hat dieser Tage angekündigt, dass es seinen berühmten Geheimdienst Mossad damit beauftragt hat, sich um die Lieferung von Schutzmasken ins eigene Land zu kümmern. Na denn. Wenn der berüchtigste und für seine eher ruppigen Methoden bekannte Geheimdienst als Maskenbeschaffer losgeschickt wird, kann man sich plötzlich noch besser vorstellen, welche Zustände an Produktions- und Versandorten dieser plötzlich ach so kostbaren Ware herrschen.
Währenddessen ...
… spielen die Integristen fast aller Religionen verrückt.
Da waren bei den Katholiken in Frankreich die Anhänger und Freunde der lateinisch gelesenen Messe und des inzwischen längst verstorbenen, erzkonservativen Monseigneur Lefèbvre. In der von ihnen seit 1977 besetzten Pariser Kirche Saint Nicolas-de-Chardonnet trafen sie sich wie Verschwörer geheim zur nächtlichen Ostermesse. Da sie aber dummerweise auf den Klang der Orgel nicht verzichten wollten und auf diese Art einige Anwohner aus dem Schlaf rissen, kam irgendwann die Polizei. Anders als sonst dieser Tage gab sich die Ordnungsmacht jedoch gnädig, brummte nur dem zelebrierenden Priester eine Geldstrafe auf, die rund 50 Gläubigen durften sich, ohne Busse tun zu müssen, davonschleichen.
Aber selbst der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, wenn auch kein Integrist, konnte es sich jüngst nicht verkneifen, eine etwas besondere und moralisierende Erklärung für das Wüten des Coronavirus zu liefern. „Die Epidemie“, so der Geistliche, „ist ein Signal, welches uns sagen will, dass wir als Einzelne und alle gemeinsam unseren Lebensstil ändern und von der ‚Frenesie‘ der ständigen Aktivitäten und Vergnügungen wegkommen müssen.“
Aus der Welt des Islam hört man mehrmals pro Woche, sei es von einem sogenannten Schriftgelehrten oder von einem Imam, das Coronavirus sei als Strafe des wütenden Allahs über die Menschheit und die Ungläubigen gekommen – ob deren lasterhaften Lebenswandels. Ein iranischer Imam sah es, solange das Virus nur in China bekannt war, als Strafe Allahs gegen die Chinesen, welche Muslime unterdrückten. Inzwischen ist der Imam selbst am Coronavirus erkrankt. Und in Frankreich hat der Imam von Brest, ein notorischer Salafist, seinen Schäfchen verkündet, es reiche ein tägliches Gebet zu Allah und sie hätten vor dem Virus absolut nichts zu fürchten.
Nichts wesentlich anderes gab in jüngster Zeit der unselige ultraorthodoxe Gesundheitsminister Israels von sich. Nicht nur, dass er mit Händen und Füssen versucht hatte, Synagogen und die Bäder für Waschungen so lange wie möglich offen zu halten. Bis zuletzt war er auch bemüht, das jüdische Osterfest ohne Ausgangsbeschränkungen aufrechtzuerhalten, indem er noch Mitte März verkündete: „Ich bin sicher, dass der Messias kommen und uns vor allen derzeitigen Erschütterungen in der Welt retten wird.“ Nichts war, Ostern wurde in der Ausgangssperre gefeiert und der Gesundheitsminister selbst positiv auf Covid-19 getestet.
Währenddessen …
... bildet sich im Pariser Vorort Clichy-sous–Bois – wo 2005 die französischen Vorstadtunruhen ihren Ausgang genommen hatten – einmal pro Woche vor dem umfunktionierten Jugendzentrum eine Menschenschlange, die beim letzten Mal einen halben Kilometer lang war und fast 800 Menschen zählte. Der Grund: Im Jugendzentrum verteilt ein Hilfsverein zusammen mit der Abbé-Pierre-Stiftung kostenlos Lebensmittel. „Nach vier Wochen Ausgangssperre explodiert die Nachfrage unter den Ärmsten der Armen regelrecht“, so ein Beobachter vor Ort. „Hier und in ähnlichen Vierteln ist nicht das Coronavirus, sondern der Hunger die grösste Sorge der Menschen.“
Währenddessen …
… haben die Élysée-Exegeten in den Medien bereits eine Welle von Vorhersagen losgetreten zur Frage, welche politischen Konsequenzen Präsident Macron schon im Sommer oder vielleicht doch erst im Herbst aus der Coronakrise ziehen könnte, und prompt steht wieder einmal die letztlich wenig glaubhafte Hypothese einer „Regierung der Nationalen Einheit“ im medialen Raum. Ein arbeitsloser ehemaliger Premierminister, dem offensichtlich langweilig wird, hat sich dafür bereits in Stellung gebracht. Manuel Valls, glückloser Kandidat bei den letzten Bürgermeisterwahlen in seiner Geburtsstadt Barcelona und vom Virus der französischen Politik offenbar wieder eingeholt, leckte Präsident Macron schon mal kräftig die Stiefel, indem er dessen letzte Fernsehansprache per Tweet in geradezu überschwänglicher Peinlichkeit lobte.
Währenddessen …
… sind in der weit verzweigten königlichen Familie Saudi-Arabiens rund 150 Prinzen mit dem Corona-Virus infiziert. Ein westlicher Banker vor Ort merkt dazu an: „Wenn Saudi- Arabien jetzt einseitig einen Waffenstillstand mit Jemen verkündet hat, dann muss die Lage wirklich sehr ernst sein.“ Resumée eines Zynikers: Wenn die Saudis husten, dürfen die Jemeniten durchatmen.
Währenddessen …
... versucht natürlich auch Italiens Mafia aus der Krise mittelfristig Kapital zu schlagen. In Sizilien verteilt sie lebensnotwendige Waren an bedürftige Familien und versorgt Kleinunternehmen am Rand des Ruins mit Bargeld. Neapels Bürgermeister spricht von einem Wettrennen. Käme die Mafia zuerst, habe man es mit einer weiteren Infektion im Land zu tun.
Währenddessen …
... herrscht in mehreren ländlichen Regionen Frankreichs weiterhin Empörung, ja Wut über das Verhalten eines Teils der Bevölkerung aus Paris und dem Grossraum rund um die Kapitale.
Seit dem 15. März haben in der Tat rund 1,2 Millionen Bewohner der 12 Millionenregion Île-de-France rund um die Hauptstadt das Weite gesucht, in der Provinz und ganz besonders an den Küsten des Landes, vor allem in der Normandie und der Bretagne.
In Saint Malo z. B. waren plötzlich ein Viertel der Zweitwohnsitze wieder belegt. Der Bürgermeister sorgte sich, seine erbosten Mitbürger könnten Autos mit Kennzeichen aus der Region Paris die Reifen durchstechen.
In Chamonix hat man dieser Tage in der Tat zahlreichen Fahrzeugen mit fremden Nummernschildern den orangefarbenen Schriftzug „Covid-19“ verpasst. Hier und in anderen Dörfern und Städten der französischen Alpen war die einheimische Bevölkerung besonders empört, dass selbst an den Osterfeiertagen – drei Wochen nach Beginn der Ausgangssperre – es immer noch hunderte Städter irgendwie geschafft hatten, zu ihren Zweitwohnsitzen zu gelangen. Auch in der Normandie und der Bretagne klagte man über diese zweite Welle des Pariser Exodus. Offensichtlich waren sehr viele in der Nacht über kleine Strassen an den Kontrollen vorbeigekommen.
Die Konsequenz für viele dieser klassischen Ferienorte an der Küste oder in den Bergen, wo die Hauptstädter eine Absteige besitzen: Niemand war darauf eingestellt, dass plötzlich Mitte März quasi Sommerbetrieb herrscht. Den noch geöffneten Lebensmittelgeschäften fehlte es tagelang an Waren und zum Teil heute immer noch an Personal. Und Einheimische, wie in Sables d’Olonnes oder in La Baule am Atlantik hatten nicht nur Angst, dass das Virus aus der per se schmutzigen Grossstadt eingeschleppt wird, sondern waren auch gründlich verärgert, weil sie in Schlangen bis zu einem Kilometer vor den Supermärkten stundenlang warten mussten.
Auch wenn zum Beispiel die Region Bretagne mittlerweile verlauten liess, man habe bisher durch den Exodus der Pariser keine übermässige Zunahme an Corona-Erkrankungen feststellen können, so bleibt der Unmut über die privilegierten Zeitgenossen aus der Hauptstadt doch weiterhin gross. Zumal man ihnen fast überall auch erst noch erklären musste, dass hier gerade kein Urlaub, sondern Quarantäne stattfindet und von daher nichts ist mit Strandspaziergängen, Sonnenbaden am Strand, Surfen oder Segeln.
Wie sagte doch jüngst ein Bürgermeister in einem Ort der französischen Alpen? „Das Ganze wird Spuren hinterlassen. Die Einheimischen hier werden nicht vergessen, wie sich der oder jener, der hier einen Zweitwohnsitz hat, in dieser Corona- Zeit verhalten hat.“
Der Autor dankt dem alten Jacques Brel für den Refrain seines Chansons „Grand-mêre“, der mit den Worten beginnt: „Et pendant ce temps-là ... “