Die Oper «Notre Dame» von Franz Schmidt, 1914 in Wien uraufgeführt, ist in der Schweiz nur gerade einmal in Szene gesetzt worden: 1958 in Bern. Man kennt deshalb nur ein winziges Stück dieses prachtvoll spätromantischen Musikdramas: Jenes Intermezzo, das immer wieder in Wunschkonzerten erklingt. Und lernt nun das Ganze kennen, an einem Ort, der wie geschaffen ist für Werk und Thema.
Dieser Raum zwischen Regierungsgebäude und Kathedrale sei der Reiz, die Schwierigkeit und der Schlüssel für das Gelingen, hat der Bühnenbildner Rifail Adjarpasic im Vorfeld der Festspiele gesagt. «Die Protagonistin ist die Kathedrale, man muss sie als Partnerin gewinnen.» Er tut es zusammen mit dem Lichtdesigner Guido Petzold auf zweierlei Weise: Zum einen, indem er mit einer riesigen, wie herabgestürzt wirkenden Rosette von der Bühne her eine Korrespondenz herstellt zur mächtigen Fassade der Barockkirche gleich dahinter. Und zum andern, indem diese Fassade mit Lichtprojektionen zum Echoraum der Handlung wird. Auf ihr tanzt riesengross Esmeralda.
Alle buhlen sie um die Frau
Hugo von Hofmannsthal hat das von Franz Schmidt selbst zusammen mit Leopold Wilk nach dem Roman von Victor Hugo verfasste Libretto «albern» und «absurd» genannt. Das ist nicht ganz falsch, aber übertrieben – und liesse sich auch von manch anderem Libretto weit erfolgreicherer Opern behaupten. Im Kern dreht es sich darum, dass gleich mehrere Männer um die schöne Zigeunerin Esmeralda buhlen, von denen der gefährlichste der Archidiaconus von Notre-Dame ist, dessen düstere Rolle der Regisseur Carlos Wagner denn auch deutlich hervorhebt.
In Simon Neal und Anna Gabler findet das Gegensatzpaar seine stimmgewaltig-eindringliche Verkörperung, um die sich der offen werbende Phoebus (Clay Hilley), der eifersüchtige Gringoire (Cameron Becker) und zuletzt der bucklige Quasimodo (David Steffens) gruppieren. Mächtig fliesst die von der Tonhalle auf den Platz übertragene Musik, in ihren besten Momenten vermag das von Michael Balke dirigierte Sinfonieorchester St. Gallen Gänsehaut zu erzeugen. Denn kompositorisch war dieser Franz Schmidt ein Meister seines Fachs, dessen Werk die Musikwelt leider zu grossen Teilen vergessen hat.
So lohnt sich die Wiederentdeckung denn, zumal in dieser Inszenierung. Unterstützt von mehreren Chören und von Tänzerinnen und Tänzern der Tanzkompanie des Theaters St. Gallen, verleiht Carlos Wagner einer Handlung Farbe, deren Düsternis Christophe Ouvrard mit seinen Kostümen unterstreicht. Denn am Ende ist es Esmeralda, die hier geopfert wird von einem Priester, der nur so seiner Begierde Herr zu werden glaubt. Am unheimlichsten wird das Spiel, wenn diese Tänzer seltsame Tierköpfe aufsetzen, es wirkt dann zusammen mit der an Filmmusik erinnernden Klangkulisse wie ein Abstieg in jene Regionen unseres Unbewussten, die wir nicht unbedingt kennen wollen.
«Medienmittelalter als Ort starker Empfindungen angesichts dramatischer Umbrüche»: So beschreibt der Historiker Valentin Groebner im Programmheft die Wirkungsgeschichte von Victor Hugos 1831 erschienen Romans und seines Zentrums, der Pariser Kirche Notre-Dame. Das habe sich zuletzt beim verheerenden Brand vor zwei Jahren gezeigt. «Betet für Frankreich», habe sogar ein Fussballer wie Neymar da auf Instagram geschrieben. Vielleicht müsste man heute sagen: Betet für eine gefährdete Welt.
Weitere Vorstellungen bis zum 9.Juli