Ein kleines Rechenspielchen gefällig? 4500 Leute sollen darüber entscheiden, unter welcher politischen Führung in den nächsten vier Jahren 2,2 Millionen Menschen leben müssen. 4500 Mitglieder nämlich hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) im ostdeutschen Bundesland Thüringen. Und die sind von ihren Oberen aufgefordert, bis zum 3. November um Mitternacht der Absicht zuzustimmen, nicht nur ein Regierungsbündnis mit der Linken (wie die mehrfach umbenannte einstige DDR-Staatspartei heute heisst) einzugehen, sondern in einem rot-rot-grünen Bündnis deren Spitzenmann, Bodo Ramelow, zum Ministerpräsidenten zu wählen – den ersten übrigens im vereinten Deutschland. 4500 – das sind gerade mal 0,2 Prozent der dortigen Bevölkerung!
Rechnerisch kaum mehr zu begründen
Doch die Wirklichkeit ist noch skurriler. Um dem Mitgliedervotum Gültigkeit zu verschaffen, bedarf es nicht einmal dieser 4,5-tausend Stimmen; schon eine Beteiligung von 20 Prozent der Berechtigten würde ausreichen – also 900 „Aktive“.
Damit aber ist das Spielchen noch keineswegs fertig. Der neue SPD-Landesvorsitzende, Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein, wäre bereits mit einer 70-prozentigen Zustimmung zufrieden. Damit bewegen wir uns im Bereich von nur noch etwa 650 Entscheidungsbefugten. Rechnerisch ist damit eine Legitimation für die SPD-Spitze eigentlich kaum mehr zu begründen.
Aber bitte, noch eine Zahl gefällig? Die von der Linken (28,2 Prozent Anteil bei der Landtagswahl am 14. November), der SPD (12,3) und den Grünen (5,7) angestrebte Koalition verfügt im Erfurter Landtag lediglich über eine Stimme Mehrheit. Das bedeutet: Wenn bei der Wahl zum Ministerpräsidenten nur ein einziger Mandatsträger aus der bunten Truppe ein „Nein“-Kärtchen in die Urne würfe, wäre das tiefrot-blassrot-grüne Experiment gescheitert.
Und, nicht zu vergessen, die Abstimmung ist geheim! Mit „Abweichlern“ hat die SPD im Übrigen Erfahrungen – und zwar keine guten. 2005 hatte ein, bis heute unbekannt gebliebenes, Landtagsmitglied der damaligen Kieler Ministerpräsidentin Heide Simonis bei deren angestrebter Wiederwahl gleich in vier Gängen nacheinander die Gefolgschaft verweigert und damit einen Regierungswechsel in Schleswig-Holstein herbeigeführt.
Drei Jahre später erlitt in Hessen Andrea Ypsilanti dasselbe Schicksal. Sie hatte nach der Landtagswahl, entgegen anders lautenden vorherigen Festlegungen, ein Zusammengehen mit der dortigen Linken angestrebt. Dies geisselten vier Genossen und Genossinnen als Wortbruch und versagten ihre Zustimmung. Allerdings geschah dies, im Unterschied zu Kiel und möglicherweise demnächst Erfurt, nicht im Dunkel der Wahlkabine, sondern mit offenem Visier…
SPD vor einer Zerreissprobe
Wer die öffentliche Diskussion in Thüringen verfolgt, wird kaum eine Wette eingehen, dass Anfang Dezember der neue Ministerpräsident tatsächlich Bodo Ramelow heissen wird. Es ist zwar nicht zu übersehen und überhören, dass in den 25 Jahren nach dem Zusammenbruch der DDR in Osten Deutschlands eine neue Generation herangewachsen ist, die keine Beziehung und nicht selten auch keine Erinnerung an den Ulbricht-Honecker-Staat mehr hat. Für sie ist die SED-Folgetruppe meist „eine Partei wie jede andere auch“, die zudem ja auch noch „demokratisch gewählt worden ist“. Dass zwischen „demokratisch gewählt“ und „demokratisch strukturiert“ mitunter ein himmelweiter Unterschied besteht (war nicht auch die NSDAP „demokratisch gewählt“ worden), macht dabei oft genug keinen Unterschied.
Aber da gibt es eben auch noch genügend andere – sowohl bei der SPD als auch bei den Grünen. Zum einen (wenngleich in abnehmender Zahl) jene „Altsozis“, die noch die ihnen nach dem Krieg im Zuge der Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED – nicht selten sogar in weiter betriebenen KZ´s wie Buchenwald – zugefügten Wunden spüren und jegliche Verbrüderung mit den einstigen Peinigern als „Verrat“ empfinden.
Und dann sind da auch noch genügend, obwohl mittlerweile auch älter gewordene Jüngere, denen das SED-Regime Studium, Karriere, Zukunft verbaut hatte und die 1989 auf die Strassen gegangen waren. Auch bei den Grünen lassen sich, gerade in Thüringen und hier ganz besonders aus den damaligen Jenaer Zirkeln kommend, genügend Menschen finden, die für den gegenwärtigen Kurs der einstigen Sonnenblumen-Partei nur entsetztes Kopfschütteln übrig haben.
Genau wie nach dem Krieg im Westen
Wer in den fünfziger Jahren in Westdeutschland aufgewachsen ist, der vermeint bei Gesprächen im Osten häufig seinen Ohren nicht zu trauen. Es sind dort, zwischen Magdeburg und Frankfurt/Oder, dieselben Sprüche zu hören, Verniedlichungen und Beschönigungen zu vernehmen wie seinerzeit zwischen Flensburg und Konstanz. „Es war doch nicht alles schlecht“, „man konnte wenigstens des nachts gefahrlos über die Strasse gehen“, „immerhin hatte jeder Arbeit“ usw. usw. Wobei, etwa hinsichtlich der letzten Aussage, gern der Unterschied zwischen „Arbeit“ und „Arbeitsplatz“ übergangen wird. Denn, wie oft standen in den hoffnungslos überalterten DDR-Betrieben die Maschinen tage-, ja wochenlang still, weil ein Ersatzteil fehlte. Na gut, man nutzte dann halt die Zeit, um nach anderen Dingen vor Geschäften anzustehen.
Die SED-Nachfolger spielen nicht ungeschickt auf dieser Nostalgie-Klaviatur. Vor allem versuchen sie damit die ihnen höchst unangenehme Auseinandersetzung um die Frage zu entschärfen, ob denn die DDR ein „Unrechtsstaat“ gewesen sei oder nicht. In den bisherigen „Sondierungsgesprächen“ mit SPD und Grünen hatte sich Ramelow hier relativ weit seinen erwünschten Partnern angenähert.
Das ist ihm natürlich auch viel leichter gefallen als den DDR-Altkadern. Denn der den Regierungschef-Sessel in Erfurt anstrebende Ramelow hat mit dem Ulbricht- und Honecker-Regime nichts zu tun. Er kommt selbst aus dem Westen, war Funktionär bei der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) und hat nach der „Wende“ in den damals wirklich noch „neuen“ Bundesländern die Gewerkschaftsbewegung mit aufgebaut.
„Diktatur ja, aber nicht überall im Alltag…“
Genau hier, freilich zeigt sich, dass Widerstand gegen „die da oben“ keineswegs nur an der SPD- und Grünen-Basis, sondern auch bei den alten SED-Kadern vorhanden ist. In einem vor wenigen Tagen bekannt gewordenen Papier eines Arbeitskreises Geschichte wird der Unrechts-Begriff deutlich relativiert. „DDR-Unrechtsstaat“, heisst es da zum Beispiel, sei ein „undefinierter Begriff, der die Aufarbeitung der Geschichte erschwert“. Er verlange „Bekenntnis, wo Diskussion und Erkenntnis“ gefordert seien. Und weiter: Ja, die DDR sei wohl eine Diktatur gewesen, „aber nicht alles im DDR-Alltag war Diktatur“. Wer wollte da widersprechen?
Interessanterweise kann sich – anders als die grüne Partei – die SPD mit eine solchen Sichtweise durchaus anfreunden. Ihr Landesgeschäftsführer René Lindenberg zum Beispiel findet, er habe kein Problem mit dem Papier. Und für Jenas sozialdemokratischen Oberbürgermeister Albrecht Schröter zählt ohnehin in erster Linie, dass es Zeit sei, „sich aus der babylonischen Gefangenschaft mit der CDU zu befreien“.
Da klingt die junge Fraktionsvorsitzende der Grünen im Thüringer Landtag, Anja Siegesmund, schon ganz anders. Obwohl erst 37 Jahre alt, hat sie dennoch den Ausspruch des aus Moskau eingeflogenen Walter Ulbricht aus dem Jahr 1945 parat: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten“. Bei den Linken, so Siegesmund, habe in den vergangenen Jahren weder nach innen noch nach aussen Aufarbeitung stattgefunden. Klingt so Vorfreude auf die künftige gemeinsame Regierungsarbeit?
Wo ist eigentlich die CDU?
Wo ist eigentlich die CDU, der eigentliche Sieger der Landtagswahl von Mitte September? Seit Linke, SPD und Grüne beschlossen haben, offizielle Koalitionsverhandlungen mit dem Ziel einer gemeinsamen Regierung aufzunehmen, sind die Christdemokraten mit Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht aus dem öffentlichen Blickfeld verschwunden. Tatsächlich kann die Partei auch nicht viel anderes tun. Zwar haben Lieberknecht und die Union bei der Wahl 33,5 Prozent und damit sogar einen Zugewinn gegenüber 2000 erzielt – aber für eine Regierung aus eigener Kraft reicht es nicht. So bleibt ihnen bis auf weiteres nur die Hoffnung, dass sich die Möchtegern-Koalition noch im Vorfeld zerstreitet.
Aber selbst wenn das geschähe und sich die SPD wieder ihrem bisherigen konservativen Partner zuwenden würde, hätte auch diese Konstellation nur eine einzige Stimme Mehrheit. Und die Zitterpartie begänne von neuem. Zumal die Grünen ein Zusammengehen mit der CDU rigoros ausgeschlossen haben, und diese ihrerseits der anti-europäischen und nationalkonservativen Alternative für Deutschland (AfD) eine Absage erteilte.
Das ist die Momentaufnahme aus dem Politgebäude Deutschland, Unterabteilung Freistaat Thüringen…