Die 60-jährige Deutsche erhielt 383 Stimmen. Nötig waren 376. Dass das Ergebnis knapp ausfallen würde, war erwartet worden.
Damit wird die EU zum ersten Mal von einer Frau geführt. Eine kämpferische Ursula von der Leyen war am Dienstagvormittag vor die EU-Parlamentarier getreten. Ihre Rede hielt die Weltgewandte sowohl Deutsch, Französisch und Englisch.
Umgarnte Sozialdemokraten, umgarnte Frauen
Das EU-Parlament, das am 26. Mai neugewählt wurde, zählt 747 Stimmen. Um gewählt zu werden, brauchte von der Leyen die absolute Mehrheit, also 374 Stimmen. Diese übertraf sie um neun Stimmen.
Die Sozialdemokraten, von denen ihr einige kritisch gegenüberstanden, hatten sich schliesslich mehrheitlich für sie entschieden. Ebenso die Liberalen. Die Grünen hatten sich klar gegen sie ausgesprochen. Für die Rechtspopulisten ist sie ein rotes Tuch. Mit ihrer engagierten Rede waren ihre Chancen allerdings gestiegen.
In ihrer Bewerbungsrede umwarb sie vor allem die Sozialdemokraten und die Frauen.
50 Prozent Frauen
Sie sei stolz, dass „endlich eine Frau als Kandidatin für den Vorsitz der EU-Kommission antritt“, erklärte sie.
Das Thema Gleichberechtigung sprach sie immer wieder an. Als Chefin der EU werde sie dafür sorgen, dass ihre Kommission zur Hälfte aus Frauen bestehe. Heute seien von 183 Kommissaren lediglich 35 Frauen. „Das ist weniger als 20 Prozent.“
Es ist das zweite Mal, dass eine Frau eine hohe Stellung in einem EU-Organ einnimmt. Vor 1979 bis 1982 war die französische Politikerin und Auschwitz-Überlebende Simone Veil Präsidentin des Europaparlaments.
„Flexibler“ Stabilitätspakt?
Um die Sozialdemokraten zu ködern, verlangte von der Leyen unter anderem einen Mindestlohn in jedem EU-Land. Ferner versprach sie bei einem Konjunktureinbruch eine Arbeitslosenrückversicherung. Im weiteren forderte sie radikale Massnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die in einigen Ländern fast 40 Prozent erreicht.
Die Wirtschaft müsse mit Reformen gestärkt werden, forderte sie und plädierte für eine Stärkung der kleineren und mittleren Unternehmen. Mit Überraschung zur Kenntnis genommen wurden ihre Aussagen zum Stabilitätspakt, was vor allem in der italienischen Regierung mit Freude registriert wird. Um Investitionen zu ermöglichen, sollte der „Pakt“ flexibel angewandt werden. Ist das ein Freipass für die italienische Politik, noch mehr Schulden zu machen?
„Der erste klimaneutrale Kontinent“
Ihre Rede war auch ein klares Bekenntnis zu Europa. „Wer Europa spaltet und schwächen will, findet in mir eine erbitterte Gegnerin“, sagte sie.
Den Klimaschutz will sie vorantreiben. In den ersten hundert Tagen ihrer Amtszeit will sie ein europäisches Klimaschutzgesetz vorlegen, das für das kommende Jahrzehnt Investitionen von einer Billion Euro vorsieht. Damit soll der Kohlendioxidausstoss bis 2030 nicht nur um 40 Prozent, sondern gar um mindestens 50 Prozent gesenkt werden. „Ich möchte, dass Europa der erste klimaneutrale Kontinent wird“, sagte sie. Damit sich tatsächlich etwas ändere, wolle sie eine CO2-Abgabe einführen. Die grösste Herausforderung sei es, den Planeten gesund zu erhalten.
Sie verlangte auch eine Besteuerung der grossen Internetkonzerne, die von den Errungenschaften der Europäer profitierten, aber in Europa kaum Steuern bezahlten.
„Die Pflicht, menschliches Leben zu retten“
Mit deutlichen Worten legte sie ein Bekenntnis zum Rechtsstaat ab. Da könne es „keine Kompromisse geben“, sagte sie. Damit richtete sie sich gegen die polnische und ungarische Regierung und ihre „Rechtsstaatssünden“.
Auch auf die Asylpolitik ging sie ein. Es gelte „die Würde jedes menschlichen Wesens zu achten – auch an den Grenzen Europas“. Auf dem Meer gebe es „die Pflicht, menschliches Leben zu retten“. Anderseits müssten Schleuser und Menschenhändler bekämpft werden. Zusammen mit dem UN-Hochkommissariat für das Flüchtlingswesen (UNHCR) sollen humanitäre Korridore geschaffen werden.
Von der Leyen beendete ihre Rede mit den Worten „Es lebe Europa. Vive l’Europe. Long live Europe.“
Sie wird ihr Amt am 1. November antreten.
(J21)