Auf dem Umschlagdeckel des gewichtigen, über 600 Seiten umfassenden Buchs tanzen Buchstaben und Zahlen; sie stammen von Paul Klee, der sich auch als Lyriker versucht hat und markieren den „Anfang eines Gedichts“. Eine stimmig-sinnliche erste Begegnung mit einem spektakulären Buch. Der Tanz von grafischen Zeichen, die sich im Inneren des Werks zu Texten, aber auch zu Bildern, zu Farben, zu Klängen fügen werden, verheisst ein ganz uneinheitliches und gerade deshalb überwältigendes Vers-Universum. Und wer gedacht haben sollte, dass die Schweiz eigentlich ein Holzboden für Lyrik sei, der wird eines Besseren belehrt. Tatsächlich ist es erstaunlich, was von Schweizern und für eine gewisse Zeit oder für immer zugezogenen Einwanderern an Lyrik produziert wurde von Beginn des 20. Jahrhunderts an bis heute. Erstaunlich sowohl quantitativ wie qualitativ.
Auf jeder Seite des Buchs wird sicht- und spürbar, dass es dem Herausgeber Roger Perret darum ging, das naturgemäss Einschränkende einer Anthologie, die ja immer auswählen, sich fürs Weglassen so gut wie fürs Zulassen entscheiden muss, zu minimieren, um, umgekehrt, möglichst viel Autoren, möglichst viel Formen, Tendenzen, Sprachen aufzunehmen und auszubreiten. Unter dem Begriff „Poesie“ subsumiert Perret grafische Spiele so gut wie farbige Rätselbilder, Einzeiler und seitenlange Wortkaskaden, rhythmische Prosa und gereimte Sonette. Quellenangaben, kleine Biografien der Autorinnen und Autoren garantieren die wissenschaftliche Korrektheit des Werks.
Es gibt für Uebersetzer nichts Schwierigeres als Gedichte von einer Sprache in eine andere zu transferieren. Es entsteht ja so vieles in der Versliteratur, das sich rational gar nicht „verstehen“ lässt. Da kann der Uebersetzer nur ahnen, spekulieren – und wir als Leser müssen froh sein, wenn seine Arbeit eine vertretbare Annäherung ans Original ist. Perret hat in seine Anthologie französische, italienische, rätoromanische, spanische, englische, albanische, jiddische, Mundart-Gedichte aufgenommen und ins Deutsche übersetzen lassen. Die Originale lassen sich einsehen. Man darf sagen, dass die meisten Uebertragungen auf hohem Niveau angesiedelt sind. In einigen freilich werden die Originale auf falsche Bahnen geleitet oder ein bisschen, selten einmal ein bisschen sehr massakriert.
Lustvolle Provokationen
Perret ordnet seine Anthologie nicht chronologisch sondern nach Themen, nach Tendenzen, nach Verwandschaften. In 28 Kapiteln versucht er, Texte zusammenzubringen, die mal ein gemeinsames Lebensgefühl eint, mal eine Aehnlichkeit in Formen, Tönen oder Perspektiven. Schon die Titel dieser Kapitel sind verheissungsvoll, lesen sich wie Gedichtzeilen: „Schreib es mit Buchstaben aus Luft“ oder „Für immer jung und nie mehr beten!“ oder „Dinne und dusse“ oder „Das Leben gefällt mir auch ohne mich“ oder „Ich bin in dieser Schosshündchenstadt zum wedelnden Hundeli geworden“. Man kann irgendwo hineinstechen ins dicke Buch, man wird fündig werden und staunen ob all den Schätzen, Kuriositäten und - mit besonderem Genuss zu lesen - frechen Provokationen, die die Lektüre bietet. Natürlich gibt es auch Aergerliches. So neigen gewisse Vertreter konkreter Poesie gelegentlich dazu Einfachheit mit Einfältigkeit zu verwechseln, wenn sie uns stolz einen klitzekleinen, einen überaus dürftigen Gedankenblitz als grafisch-textliches Gesamtkunstwerk präsentieren wollen. Nicht jede Wort-Autopsie führt zu Erkenntnisgewinn und bei diversen einzeiligen Gedichten wüsste man gerne mehr. Keine Anthologie ohne Unzulänglichkeiten. Sie sind in unserem Fall umso verkraftbarer, als sich das Meiste, was Perret an schweizerischer Poesie ausgesucht hat, frisch und leidenschaftlich, kühn und experimentierfreudig, überraschungsreich liest.
Poètes maudits
Der Herausgeber hegt eine Vorliebe für Dichterinnen und Dichter, die man in Frankreich „poètes maudits“ nennt, Randständige, in psychiatrische Anstalten Eingewiesene, Suizidgefährdete. Eine ganze Reihe von ihnen kommt zu Wort, darunter auch bisher ganz Unbekannte und, kein Zweifel, sie gehören zu den eindrücklichsten Stimmen des Buchs: ein Louis Soutter mit seinen Fantasien, ein Adolf Wölfli, der in seinem Sprachlabor die entlegensten Begriffe zusammenmixt und mit Humor würzt, eine Constance Schwartzlin-Berberat mit ihren lakonischen Vers-Bildern, in denen sich die Inhalte buchstäblich anschauen lassen, während sie gleichzeitig über sich hinausweisen – sie suggerieren, manchmal fast beängstigend intensiv, Macht und Ohnmacht des lyrischen Gestus. „Es hat die Liebe, oft den Wahn“ hebt ein kleines Gedicht von Wölfli an, das sich dann in einem komischen Wortgestrüpp verfängt. Liebes- und andere Leidenschaft bis hin zur Entgrenzung, zum Wahn, der wiederum schmerzlich genau, luzid beschrieben wird, das gehört zu den starken Momenten und Auftritten der „poètes maudits“ im Buch.
Von den Grössen wie Hermann Hesse oder Robert Walser bekommt man für einmal nicht die bekannten Stücke vorgesetzt sondern ungeschminkte Verse, in denen Schmerz und Wut vibrieren, die beschimpfen und provozieren wollen – und das mit beeindruckender Verve. Die Deutschschweizer Mundart-Poeten mit ihren Lautmalereien und Schlaumeiereien sind gut vertreten, auch mit Lied- und Songtexten; das geht von Mani Matter bis Sophie Hunger, von Kurt Marti bis Pedro Lenz. Und fürs Urbane, Geschichtsträchtige, für den Blick ins Fremde und Weite sorgen zuverlässig die Zugewanderten, Hans Arp, das Ehepaar Ball, Otto Nebel, Zsuzsanna Gahse, Paul Klee, Agota Kristof, Aglaja Veteranyi.
Blaise Cendrars, der Jurassier, der ein Abenteurer und Weltbürger wurde, eröffnet mit einem Paukenschlag die Anthologie. Sein Gedicht „Contrastes“ aus dem Jahr 1913, gekonnt ins Deutsche übertragen von Peter Burri, beginnt so: „Die Fenster meiner Poesie sind weit geöffnet zur Strasse…“. Die Strasse liegt in Paris und der Blick aus dem Fenster will nicht weniger erfassen als die Welt, die Welt am Abgrund, wie sie der prophetische Dichter vorausahnt. Gedichte dürfen das und tun es: unendliche Räume, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein paar Zeilen unterbringen. Und der verwegene Cendrars schafft das Kunststück, in wenigen Versen eine Art Weltstimmung zu evozieren. Ein schöner Auftakt für ein Buch, das hält, was es verspricht!
Moderne Poesie in der Schweiz, Eine Anthologie von Roger Perret. Erschienen im Limmat Verlag, unterstützt vom Migros-Kulturprozent. Preis: 53.-