Immer mehr bestimmen Umfrage-Ergebnisse Inhalte und Entscheidungen der Politik. Ausserdem: wie belastbar ist eine Gesellschaft, von der Verzicht gefordert ist, die jedoch nur Wohlstand und Sicherheit kennt?
Früher gab es praktisch nur das Allensbacher Meinungsforschungs-Institut und dessen Leiterin, Prof. Elisabeth Noelle-Neumann, wenn man zum Beispiel erfahren wollte, in welcher inneren Verfassung sich die Deutschen gerade befinden. Wenn gewünscht, erkundete die «Pythia vom Bodensee“ dann für die Regierungen von Bund und Ländern, die Parteien und auch gezielt für einzelne Politiker deren jeweiligen Bekanntheits- oder Beliebtheitsgrad beim Volk. Oder sie sagte auch die aktuellen Wahlchancen voraus. Inzwischen hat sich die Demoskopie zu einer veritablen Industrie entwickelt, in der nicht nur ordentliche Gewinne erzielt werden. Vielmehr beeinflussen die Ergebnisse der zahlreichen Meinungsumfragen schon seit Langem das Handeln und Verhalten von Politik und Politikern.
Angst vor unangenehmen Beschlüssen
Demokratie steht, dem Wortsinn nach, für «Volksherrschaft». Was im Lande geschieht, wird demnach von der Mehrheit der Bürger bestimmt. Deren gewählte Vertreter, wiederum, haben sich in Interessengruppen organisiert – genannt «Parteien». Klar, das ist Klippschul-Wissen und findet hier auch nur deshalb Erwähnung, weil sich – anders als in früheren Jahrzehnten – die deutsche Politik zunehmend in die Abhängigkeit von Volkes (demoskopisch erfragter) Stimme begibt. Das gilt natürlich vor allem für unangenehme, ja schwierige Entscheidungen, die in der Öffentlichkeit umstritten sind. Zum Beispiel Steuer-, Sozial-, Sicherheits- oder Aussenpolitik.
Politisch und historisch interessierte Mitbürger werden sich vielleicht noch erinnern, dass in der (west-)deutschen Nachkriegspolitik nahezu alle «grossen», weil tief in das nationale und nicht selten auch weltweite Geschehen eingreifenden, Entscheidungen gegen den jeweils in der Gesellschaft herrschenden Mehrheitswillen getroffen wurden. Das begann mit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft (selbst die Union war ursprünglich für eine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien), ging weiter über die – massiv bekämpfte – Wiederbewaffnung und die damit verbundene Westbindung und galt auch für die zur Ablösung noch bestehender Besatzungsrechte notwendigen «Notstandsgesetze». Und, nicht zuletzt, für die Umsetzung des so genannten Nato-Doppelbeschlusses, der unter Umständen die Stationierung atomar bestückter, US-Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden vorsah. Dagegen gingen seinerzeit Hunderttausende auf die Strasse, und 75 Prozent der Westdeutschen waren extrem dagegen.
Gegen die Mehrheitsmeinung
All diese Grundsatzentscheidungen haben sich, im Nachhinein, als richtig erwiesen. Sie durchzusetzen, dafür einzustehen selbst bei heftigstem Gegenwind – das setzte freilich von der Notwendigkeit überzeugte, mutige Persönlichkeiten voraus. Deutschland kann solche vorweisen. Konrad Adenauer, etwa, der dem Land die Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Staaten ermöglichte. Oder Willy Brandt, dessen (die Bevölkerung spaltende) Ostpolitik eine wesentliche Voraussetzung für die später unter Helmut Kohl vollzogene Wiedervereinigung war. Oder Helmut Schmidt, dessen Name keineswegs nur mit der Befreiung der Geiseln in der entführten Lufthansa-Boeing «Landshut» verbunden ist, sondern mit einer beherzten Aussen- und Sicherheitspolitik, die freilich bei weitem nicht von all seinen Genossen mitgetragen wurde.
Warum dieser Rückgriff in die Geschichte? Weil sich nach dem Ende des Kalten Krieges, des Ost/West-Gegensatzes, des Zusammenbruchs von Warschauer Pakt und Kommunismus in der (keineswegs nur deutschen) Öffentlichkeit immer weiter ein trügerisches Gefühl von Sicherheit und Wohlgefühl breitgemacht hat. Eine Stimmung, die mehr und mehr dazu neigte, unangenehme Realitäten in anderen Teilen der Welt auszublenden. Schliesslich war man doch – erstmals in der deutschen Geschichte überhaupt – nur noch umgeben von einer Welt von Freunden. «Friedensdividende» lautete nahezu dreissig Jahre lang das Zauberwort, unter dessen Schirm es sich scheinbar dauerhaft gut leben liess. NATO und Bundeswehr? Gegen wen sollen wir uns denn verteidigen? Militärausgaben? Runterfahren! Sozialpolitik ist das Gebot der Stunde!
Kaum lösbare Abhängigkeiten
Die Liste der – selber und gern gemachten – Illusionen liesse sich leicht noch deutlich verlängern. All das war (und ist es vielleicht, trotz des Ukraine-Krieges, noch immer) weitgehend allgemein gültige Meinung. Dazu tauchte noch ein zweites Zauberwort auf: Globalisierung. Dass ganze Industrien wegen einiger Weniger-Cent-Einsparung ihre Produktion von Deutschland nach Asien verlagerten, sich – wie am Beispiel China jetzt für alle Welt erkennbar – damit in kaum mehr lösbare Abhängigkeiten begaben, führt in der gegenwärtigen Situation nicht zufällig zu empörten oder gar angsterfüllten Kommentaren. Gar nicht zu reden von der Fessel, in die Politik und Wirtschaft das Land mit den Gasgeschäften mit Russland gepresst haben!
Aber: Waren das wirklich nur «die da oben»? Die in den Berliner Regierungstürmen und den Konzernpalästen von Hamburg, Düsseldorf oder Frankfurt? Ja klar, die Wirtschaftsbosse wollten zuvörderst Geld machen und griffen darum gern nach dem billigen Russengas. Aber das haben wir («die da unten») doch liebend gern mitgemacht, haben es alle so gewollt! Gasheizen war billig und bequem; ist doch wurscht, woher das Zeug kommt. Und genau das spiegelte sich wider in den von der Bundesregierung und anderen ständig initiierten Meinungsumfragen. Es ist darum ebenso leicht, billig und unfair, die Verwirklichung der zweiten Gasleitung durch die Ostsee vorwurfsvoll nur der Ex-Kanzlerin Angela Merkel auf den Buckel zu binden. Das war vielmehr Demokratie – Volkswille – vom Feinsten. Denn alle waren auf diesem Trip – die diversen Regierungspartner an der Spree und in den Landes-Metropolen, die meisten Oppositionsparteien und letztlich wir alle. Gewissenserforschung zu betreiben, wäre deshalb dringlich für jedermann angebracht.
70 Jahre Wohlgefühl
Und zwar möglicherweise auch deshalb, weil unsere Gesellschaft jetzt vor der Aufgabe steht, etwas zu bewältigen, was in den rund siebzig Jahren Nachkriegszeit allenfalls am Anfang zu vollziehen notwendig war. Nämlich: zurückstecken oder gar verzichten. Zwar vermitteln die täglichen Bilder von Menschenschlangen an den Flughäfen noch immer die Illusion von bleibendem Frieden, anhaltender Freude und ungebrochenem Wohlstand. Aber ein Blick an die Ränder der Gesellschaft oder auf die Preistafeln der Supermärkte und die monatlichen Energieabrechnungen zeigt: Es hat eine neue Wirklichkeit auch für dieses Land und seine Bewohner begonnen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat bereits vor Wochen eine «Zeitenwende» angekündigt. Zwar verwandte er diesen Begriff im Hinblick auf die längst überfälligen «Reparaturen» an der Bundeswehr. Aber er träfe auch zu auf den mit Abstand überwiegenden Teil unserer Bevölkerung. Die Allermeisten sind aufgewachsen in Jahrzehnten, in denen der Wohlstand und die Erfüllung von Wünschen normal waren. Mag sich mancher vielleicht auch noch erinnern, dass sich die Eltern krummlegen mussten, damit der Junge «es einmal besser hat». Aber bereits für dessen Kinder war ganz gewiss nicht mehr die Fahrradtour entlang der Mosel mit Zelt und Schlafsack die Erfüllung der Urlaubswünsche, sondern der Flug in den Ferienklub «all inclusive» nach Mallorca oder Kroatien.
Verlockende Sozialversprechungen
Es ist wie bei der Frage, ob Henne oder Ei zuvorderst waren. Waren es die verlockenden Sozialversprechungen und -angebote der Politik oder die zunehmenden Forderungen der Gesellschaft? Jedenfalls übernahm «der Staat» immer mehr an Fürsorge für die Bürger – bei der Betreuung, bei der Grundsicherung, der Bildung, bei der Stadtreinigung … Mag doch jeder selbst die Liste verlängern. Dabei muss in der Tat schon klar sein, dass der demokratische Staat auch ein solidarischer zu sein hat. Aber soll er deshalb auch immer mehr Selbstverantwortung vom Einzelnen nehmen? Es ist doch kein Zufall, dass die christliche wie auch die sozialdemokratisch-sozialistische Soziallehre auf das so genannte Subsidiaritätsprinzip bauen. Und das bedeutet vereinfacht: Zunächst einmal ist jeder Einzelne für sein persönliches Fortkommen und das seines Umfelds verantwortlich. Erst wenn jemand dazu nicht in der Lage ist (und die Zahl derer ist wirklich nicht gering), tritt die Solidarität für ihn ein.
Diesem Prinzip zu folgen, ist bestimmt schwieriger als eine allumfassende öffentliche Fürsorge, Aber es lässt, andererseits, auch viel mehr Raum für Eigeninitiative. Auch wenn der von Russlands Diktator Wladimir Putin mutwillig befohlene schreckliche Krieg in der Ukraine einmal beendet sein wird, werden seine Folgen – wirtschaftlich, geopolitisch, menschlich und sozial – mit Sicherheit noch lange fortwirken. Und wohl selten beinhaltet ein banaler Satz wie dieser so viel Richtigkeit: «Die Welt danach wird nicht mehr dieselbe sein.» Es wäre gewiss kein Fehler, sich dessen bewusst zu werden.