Rosen schildet jetzt seine Erlebnisse und gefährlichen Abenteuer ausführlich im englischen Dienst von „Al-Jazeera“. Auszüge wurden auf Französisch im „Paris Match“ veröffentlicht.
Rosen ist bekannt für seine Darstellungen der Zustände im Irak unter der amerikanischen Besatzung. Er beleuchtete stets die Standpunkte der verschiedenen irakischen Gruppen. Er sieht aus wie ein Araber und spricht ihre Sprache. Diesem Umstand sowie seinem ausserordentlichen Mut verdankt er seine guten Kontakte mit den Bevölkerungen der arabischen Länder. Er hat auch die seltene Fähigkeit, die Kontrollversuche der Regime (und die der amerikanischen Besetzungsmacht im Irak) zu umgehen. Berichte über ihn und seine Veröffentlichungen findet man zusammengestellt bei Wikipedia. Dort wird auch auf seinen persönlichen Blog hingewiesen. Aufgeführt sind all seine Artikel und Bücher.
Sunnitischer Widerstand
Aus seinen syrischen Reportagen geht klar hervor: Es gibt einen bewaffneten Widerstand in Syrien. Er besteht im Wesentlichen aus sunnitischen Soldaten und Offizieren, die ihre Einheiten verlassen haben. An verschiedenen Stellen des Landes haben sie sich gesammelt und versuchen, Aktionen gegen die Armee durchzuführen sowie die Bevölkerungen bei ihren Demonstrationen "zu schützen".
Am stärksten scheint der Widerstand in den Dörfern und Ortschaften rund um Homs zu sein. Doch nicht nur dort.
Nir Rosen selbst ist der Ansicht, dass die Frage, ob der Widerstand sich bewaffnen oder weiterhin gewaltlos bleiben soll, von der syrischen Opposition zur Zeit diskutiert wird. Bewaffneter Widerstand fordert die (alawitisch dominierten und kontrollierten) Sicherheitskräfte heraus und wird sie zu noch brutalerem Vorgehen gegen die "feindliche" Bevölkerung anstacheln. Er erlaubt auch dem Regime, propagandistisch seine Gegner anzuklagen, indem es die "Untaten" der angeblichen "Agenten" und "Banden" am staatlichen syrischen Fernsehen zeigt. Natürlich wird nicht klargestellt, dass es sich um Überläufer aus der eigenen Armee handelt.
Doch das Gegenargument lautet, die syrische Armee und die Sicherheitsspezialisten täten ohnehin alles, was sie vermöchten, um die Bevölkerung zu unterdrücken. Diese sei nur in der Lage, sich durchzusetzen, wenn sie ihrerseits zu den Waffen greife. Bei diesen Argumenten scheint der Blick auf Libyen eine Rolle zu spielen.
Hilfe von aussen, wie in Libyen?
Nur handelt es sich leider um eine falsche Analogie. In Libyen gab es von Anfang an einen Teil des Landes, in dem der Widerstand stark war. Dies ermöglichte es der Nato, zum Schutz der dortigen Bevölkerung, in der Cyrenaika, besonders in Benghazi, einzugreifen. In Syrien gibt es nichts Vergleichbares. Wenn die Opposition sich auch nur anschickt, einen symbolischen "Befreiungsplatz" zu besetzen, um sich dort niederzulassen, wie sie dies in Homs versuchte, beschiesst sie die syrische Armee bis sie den Platz geräumt hat.
Die Regierung versucht unter allen Umständen zu vermeiden, dass sich die Opposition irgendwo in Syrien ihr eigenes Einflussgebiet schaffen kann. Der Vergleich mit Libyen trifft auch nur sehr teilweise zu, weil die strategische Lage der beiden Länder sehr verschieden ist. Libyen hat Erdöl und auf syrischer Seite gibt es das Bündnis mit Iran.
Deserteure im Überlebenskampf
Was immer der Ausgang der inneren Diskussionen unter den verschiedenen lokal getrennten Oppositionskräften in Syrien sein mag, die Entwicklung trägt ihre eigene Dynamik in sich. Überläufer, die über Waffen verfügen, müssen damit rechnen, dass die Armee auf sie Jagd macht und sie grausam bestraft, wenn sie ihrer habhaft wird. Sie sind gezwungen, ihre Waffen einzusetzen. Sie versuchen auch, sich zu Gruppen und Einheiten zusammenzuschliessen, die sich einigermassen wirksam zur Wehr setzen können. Sie werden Kontakt mit jenen Teilen der Bevölkerung suchen und finden, die sich gegen das Regime erheben.
Die Gemeinschaften igeln sich ein
Je mehr Überläufer es gibt, desto tiefer treibt das Land in einen Bürgerkrieg hinein. Wobei Rosen sehr detailliert schildert, wie schon heute die unterschiedlichen syrischen Gemeinschaften getrennt und isoliert voneinander leben. Jede in sich geschlossen, und eine jede erhält Informationen und Nachrichten, denen sie Vertrauen schenkt, während sie die Informationen der Gegenseite als Lügen ablehnt.
Rosen formuliert: die Alawiten und die Regierung sowie die syrischen Christen stehen auf der einen Seite, die Sunniten auf der Gegenseite; die Drusen warten ab, bis sie sehen, wer sich als der Stärkere erweist.
Die doppelte Furcht der syrischen Christen
Die Stellungnahme der Christen, so deutet er an, ist durch doppelte Furcht bestimmt: Furcht vor der Repression des Regimes, aber auch Furcht vor dem, was werden könnte, wenn das Regime untergeht. Was die Furcht vor dem Sturz des Regimes betrifft, schauen die syrischen Christen auf die irakischen Christen und das Schicksal, das sie nach dem amerikanischen Eingriff erleiden mussten.
Doch solche notwendigerweise abstrahierenden Überblicke sind sehr viel weniger erhellend als die ausführlichen Schilderungen der Lage, die man nun bei Nir Rosen zu lesen bekommt.