Internationale Wahlbeobachter hatten am Dienstag erklärt, Jude Célestin, der Kandidat der Regierungspartei, liege weit abgeschlagen an dritter Stelle. Damit hätte er es nicht in die Stichwahl geschafft. Selbst Vertreter der Regierungspartei hatten schon ihre Niederlage eingestanden.
Am Abend dann wurde das offizielle Wahlergebnis veröffentlicht. Und man staune. Plötzlich lag Jude Célestin doch an zweiter Stelle. Allerdings sehr knapp vor dem Drittplatzierten. Doch das ist unwichtig. Wichtig ist, dass er es ist, der zusammen mit der Universitätsprofessorin Mirlande Manigat am 16. Januar zur Stichwahl antreten wird.
Die Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses hat denn auch gleich eine Welle der Gewalt ausgelöst. Überall fielen Schüsse, überall brannten Autoreifen. Die Demonstranten werfen der Regierung vor, das Ergebnis im letzten Moment manipuliert zu haben. Auch die USA und UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon äusserten schwere Zweifel am Wahlergebnis.
Vor allem wird befürchtet, dass die Regierungsmannschaft jetzt auch den zweiten Wahlgang im Januar zu ihren Gunsten manipulieren wird.
Haiti, vom Erdbeben zerstört und an Cholera leidend, bräuchte jetzt unbedingt internationales Vertrauen und internationale Hilfe. Der Verlauf der Wahlen wird alles andere als das Vertrauen in das Land stärken. Die internationale Hilfe läuft denn auch sehr schleppend an. Bisher sind nur 20 Prozent der benötigten Hilfsgelder eingetroffen. Wer hilft schon einem korrupten Land.
Der politisch völlig unerfahrene Célestin wurde als Marionette des jetzt abtretenden Staatspräsidenten René Préval ins Rennen geschickt. Célestin vertritt den bisher regierenden korrupten „Apparat“. Da Préval schon zwei Mal Präsident war, durfte er laut Verfassung nicht ein drittes Mal kandidieren. Doch viele befürchten, dass er bei einer Wahl Célestins weiterhin die Fäden ziehen wird.
Tote auf den Wahllisten
Für keinen Kandidaten wurde so viel Geld in den Wahlkampf gepumpt wie für Célestin. Er, der ein Verhältnis mit Prévals Tochter hat, war überall zu sehen. Immer wieder Fernseh- und Radioauftritte, überall Inserate in Zeitungen, überall auch riesige Plakate und gross inszenierte Wahlauftritte.
Der Verlauf der Wahlen liess denn auch Schlimmes befürchten. Der Urnengang verlief in diesem chaotischen Land erwartungsgemäss chaotisch. Ein Staat, der elf Monate nach dem verheerenden Erdbeben noch immer nicht weiss, ob die Katastrophe 200‘000 oder 300‘000 Tote gefordert hat, ist wohl nicht in der Lage, einen geordneten Urnengang durchzuführen. Wahlzettel wurden zerrissen. Tausende von „Toten“, die auf den Wahllisten figurierten, gaben ihre Stimme ab. In vielen Wahllokalen waren die Urnen schon gefüllt, bevor die Wahlen begannen. Zehntausende waren nicht auf den Wahllisten aufgeführt. Wahlurnen wurden gestohlen, andere verbrannt.
Der Präsident überliess das Land dem Elend
Da lag natürlich die Befürchtung nahe, dass die haitianische Nomenklatura hinter den Betrügereien stehen könnte und die Wahlen zu ihren Gunsten fälschen würde.
Der jetzt abtretende Präsidenten René Préval war immer eine schwache Figur und nie sonderlich beliebt. Doch seit dem Erdbeben im letzten Januar wurde er in weiten Kreisen ganz abgeschrieben. Nicht zu Unrecht: Préval und seine Regierung überliessen das Land dem Elend.
Haiti ist einer der ärmsten Flecken Erde. Das Land wurde immer wieder von schrecklichen Schicksalsschlägen getroffen. Sicher haben die französischen Kolonialisten Haiti ausgebeutet. Sicher auch hat der Duvalier-Clan – mit Unterstützung der USA – die Haitianer ausgeplündert und nichts zu ihrer Entwicklung getan. Aber die Duvaliers wurden vor fast einem Vierteljahrhundert weggeputscht. Und seither haben sich auch die demokratisch gewählten Regierungen als meist korrupt und unfähig erwiesen.
Der Präsident liest keine Zeitung
Auch René Préval, der von 1996 bis 2001 Präsiden war und 2006 wiedergewählt wurde, öffnete der Korruption Tür und Tore. Man mag von Wikileaks halten, was man will. Doch die jetzt publizierte amerikanische Charakterisierung Prévals ist interessant.
Schon während der ersten Amtszeit sei er als „inaktiv“ aufgefallen. Manchmal „entschlossen“, manchmal „verwirrt“. Er spiele seine Präsidentenmacht selten aus, was zu einer „politischen Leere“ führe.
Er habe den Charakter eines Chamäleons. Der Kreis um ihn herum sei in den letzten zwei Jahren sehr viel kleiner geworden. Es sei bekannt, dass er sich in den letzten Jahren immer mehr isoliert habe. „Er verlässt selten den Präsidentenpalast. Und wenn schon, nur um am Abend in seine Residenz zu fahren oder ins Haus, das er seiner jetzigen Frau auf den Hügeln von Port-au-Prince gekauft habe.
Vertrauen habe Préval „weder in seine Berater noch in seine Minister“. Deshalb könne er auch nicht delegieren und befasse sich selbst mit den unwichtigsten Dingen. Er akzeptiere keine gegenteiligen Meinungen. Er sei auch „skeptisch, was das Engagement der internationalen Gemeinschaft angeht“. Er sei überzeugt, dass „niemand Haiti so gut versteht wie er“. Und: Préval gestehe, dass er keine Zeitungen lese: weder internationale noch lokale News.
Leute, die „nicht notwendigerweise an die Interessen Haitis denken“
Die Wikileaks-Dokumente passen ins Bild, das Préval nach dem Erdbeben und dem Ausbruch der Cholera von sich abgab. Er war nicht präsent, er tat nichts für das Volk.
Die Leere, die sich um ihn herum ausbreitete, hatte Folgen. Sie ermöglichte es einer korrupten, geldgierigen Schicht, das Land auszuplündern. In einer von Wikileaks veröffentlichten amerikanischen Depesche heisst es: Die Inaktivität Prévals führe dazu, dass Leute einen Platz fänden, die „nicht notwendigerweise an die Interessen Haitis denken“.
Wenn Préval – via Célestin – weiterhin an der Macht bliebe, wäre das das Schlimmste, was Haiti passieren könnte. Denn Préval hat während vieler Jahre als Ministerpräsident und Staatspräsident bewiesen, dass Haiti mit ihm nicht weiterkommt.
Célestin erhielt laut Angaben der Wahlkommission 22 Prozent der Stimmen. Nur 6800 Stimmen mehr als der Drittplatzierte Musiker Michel Martelly alias „Sweet Michey“. Martelly hat jetzt zehn Tage Zeit, um gegen das Ergebnis Einspruch zu erheben. Laut internationalen Wahlbeobachtern hatte er einen Fünf-Prozent-Vorsprung auf Célestin. Der49jährige Martelly, der vor allem als Komponist und Sänger der Kompas-Musik bekannt ist, hat während des Wahlkampfes an Statur gewonnen. Politologen betrachteten ihn als sehr valablen Kandidaten mit vernünftigen Ideen. Am meisten Stimmen, nämlich 31 Prozent, erhielt die 70jährige Mirlande Manigat.
“Haiti gehört auf die Intensivstation“
Eine Wahl von Manigat am 16. Januar wäre die einzig vernünftige Lösung. Sie gilt als integer, intelligent und weltoffen. Sie will Haiti international verknüpfen und das Land nicht abschotten, wie Préval dies tat. Doch ihre Wahl ist keineswegs gesichert.
„Haiti gehört auf die Intensivstation“, erklärt sie. Sie, die bodenstämmige Intellektuelle, Frauenförderin und Autorin zahlreicher Bücher, fordert einen „radikalen Regierungswechsel“. Die bisher „unfähigen und korrupten Regierenden“ müssten abtreten. Manigat will vor allem die vielen ausgewanderten Haitianer ins Land zurückholen. Sie seien zum Teil gut gebildet und könnten mithelfen, das Land voranzubringen. Eine solche Rückkehr der Auswanderer sei im Moment noch schwierig. Denn wer ein fremdes Bürgerrecht angenommen hat, verliert laut Artikel 15 der Verfassung die haitianische Staatsbürgerschaft.
Maginat will auch in die Bildung und die Alphabetisierung der Jugend investieren. Das soziale Gefälle schaffe Frustrationen, sagt sie, „vor allem unter den Jungen, die eine leichte Beute aller Arten von Versuchungen werden“. Sprich: Kriminalität. „Unsere Jugend ist dabei, die Jugend zu vergeuden, und der Staat tut nichts“.
Viel wird jetzt davon abhängen, wie sich die internationalen Wahlbeobachter verhalten. Ein UNO-Sprecher sagte vor vier Tagen, die UNO würde eine Wahlfälschung nicht akzeptieren. Man ist jetzt gespannt, wie die internationale Gemeinschaft jetzt reagiert. Und: Wird sie es zulassen, dass im zweiten Wahlgang das gleiche Chaos herrscht?