Es war, als hätte die Corona-Krise einen an diesem Mittwochmorgen, knapp drei Wochen nach Beginn der Ausgangssperre, erstmals so richtig wachgerüttelt und einen aus der privilegierten Quarantäne in diesem südfranzösischen Städtchen Dieulefit und der damit verbundenen relativen Sorglosigkeit herausgerissen.
Die Nachrichten zwischen 7 und 9 Uhr und die Themen, zu denen die Radiostation «France Inter» an diesem Morgen Studiogäste per Telefon zugeschaltet hatte, sorgten dafür, dass es mit der gewissen inneren Ruhe plötzlich vorbei war, der Tag und die Tage danach eine ziemlich nachdenkliche, ja düstere Note bekamen.
Trübe Perspektiven
Zunächst malten da zwei Wirtschaftsexperten ein stockfinsteres Bild der kommenden Monate in diesem Land. 700’000 Betriebe haben inzwischen mehr als acht Millionen Menschen, das sind mehr als ein Drittel der aktiven Bevölkerung, in die Kurzarbeit geschickt.
Nach Ende der Corona-Krise darf man mit einer Massenarbeitslosigkeit von weit über 10% rechnen, wie man das bisher auch in den schlechtesten Zeiten, z. B. nach der Pleite von Lehman Brothers und der folgenden Finanzkrise 2008 nicht erlebt hatte.
Die Gesamtschuld Frankreichs, die ohnehin schon bei knapp 100% des Bruttosozialprodukts liegt, wird angesichts der verschiedenen Hilfsprogramme, geringeren Steuerreinnahmen etc. ins Unermessliche steigen. Zehntausende Betriebe, darunter viele mittelständische, von denen es in Frankreich ohnehin zu wenige gibt, werden die Krise nicht überleben.
So mancher Experte oder Politiker, der in den letzten Wochen die Sondersendungen oder verlängerten Nachrichten im französischen Fernsehen oder im Radio füllte, hatte sich – um ein Zusammenstehen der Bevölkerung in dieser aussergewöhnlichen Krise zu beschwören – zu dem unüberlegten, aber natürlich gut klingenden Satz hinreissen lassen: «Vor dem Coronavirus sind wir alle gleich». Ein Satz, den er sich hätte zweimal überlegen sollen, bevor er ihn losliess. Denn er ist ein ausgemachter Blödsinn.
Soziale Folgen
Von wegen gleich, genau das Gegenteil ist der Fall.
Und weil das so ist, und die Ärmsten und Unterprivilegierten natürlich jetzt schon zehn Mal mehr unter den Folgen der Ausgangssperre zu leiden haben als die besser Situierten und weil sie mit ebenso grosser Sicherheit diejenigen sein werden, die den wirtschaftlichen Einbruch in den nächsten Monaten als Erste zu spüren bekommen, wird einem etwas mulmig im Bauch.
Viele sprechen und schreiben dieser Tage in Frankreich davon, dass die Corona-Krise der Ausgangspunkt für einen positiven, ökologisch orientierten Neuanfang in unseren Gesellschaften und Volkswirtschaften sein könnte.
Man selbst ist da reichlich skeptischer
Zum einen verstärken das Virus und der Kampf dagegen heute schon in zahlreichen Ländern autoritäre und populistische Tendenzen und die Erfahrung lehrt, gerade auch in Frankreich nach den Terroranschlägen 2015, dass von freiheitsbeschneidenden Massnahmen in Ausnahmesituationen nach Ende der Ausnahmesituation immer etwas übrig bleibt.
Zum anderen scheint es fast unvermeidlich, dass sich zumindest hier in Frankreich der Graben zwischen arm und reich, zwischen denen da unten und denen da oben, zwischen dem von Populisten so oft bemühten «Volk» und seinen angeblich enthobenen Vertretern in den Parlamenten, zwischen den so genannten «kleinen Leuten» und den hierzulande mehr und mehr verschmähten Eliten in den nächsten Monaten weiter vertiefen wird.
Darüber hinaus kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die schmerzhaften Auswirkungen der Corona-Krise hierzulande in einigen Monaten auf besonders fruchtbaren Boden fallen werden.
Die seit 18 Monaten angespannte Stimmung im Land – erst die von Gewaltausbrüchen begleitete Gelbwestenbewegung, dann der historisch lange Streik gegen die Rentenreform, die eindeutige Zunahme der verbalen Gewalt in der öffentliche Debatte, der latent vorhandene Hass auf das Staatsoberhaupt, den «Präsidenten der Reichen», die beachtliche Inflation von Schmähungen, Drohungen und kleineren Gewalttätigkeiten gegen Volksvertreter auf allen Ebenen – das alles war schon besorgniserregend genug. Leider kann man sich nur schwer vorstellen, dass die Krise, die auf die Corona-Krise folgen wird, diese Tendenzen im Land nicht noch weiter verstärken wird. Wie gesagt: ein mulmiges Gefühl im Bauch.
Der Kultursektor
Der nächste Interviewpartner an jenem Mittwochmorgen im öffentlich-rechtlichen Radiosender «France Inter» war der Direktor der Theaterfestspiele von Avignon, Olivier Py, der sich an diesem Tag anschicken sollte, trotz allem das offizielle Programm der diesjährigen Ausgabe des Festivals, das am 5. Juli beginnen würde, per Internetauftritt vorzustellen.
Die ganzen zehn Minuten des Interviews hielt er fast verzweifelt an dem einen Satz fest: «Für mich sind diese Festspiele 2020 noch nicht abgesagt.»
Verständlich, dass er sich an die Hoffnung klammert, spätestens am 5. Mai dann vielleicht doch noch mit den Vorbereitungen und den Aufbauten für das Hauptprogramm beginnen zu können.
Zehntausende Künstler, Regisseure, Techniker, Bühnenbildner oder Presseagenturen arbeiten einen ganzen Teil des Jahres auf diese Festspiele hin, zu denen in 14 Tagen rund 700’000 Zuschauer strömen. Eine Absage würde natürlich das offizielle Programm mit seinen oft sehr aufwändigen Inszenierungen und komplizierten, internationalen Koproduktionen treffen.
Noch schlimmer und lebensbedrohender sieht es aber für unzählige, oft junge Künstler beim «Off-Festival» aus. Hier zeigen in Avignon Jahr für Jahr rund 1000 Ensembles auf den Brettern, wozu sie in der Lage sind, mit der Hoffnung, hier so etwas wie den Durchbruch zu schaffen, aus der Anonymität herauszufinden. Sie hoffen, dass ihre Produktionen von Theaterdirektoren, die sich beim Off-Festival in Avignon normalerweise zuhauf tummeln, für die kommende Saison eingekauft werden.
Festivalsommer ade?
Avignon ohne Festspiele, das wäre für die französische, ja auch für einen Teil der europäischen Theaterwelt eine schlichte Katastrophe.
Doch schaut man sich an, welche anderen Festspiele und Grossereignisse des kommenden Sommers bereits abgesagt sind, darf man wohl auch Avignon keine allzu grossen Chancen einräumen, und man beginnt jetzt schon, mit Olivier Py, dem Direktor der Festspiele und seinem Zweckoptimismus, Mitleid zu haben.
Dabei gibt es ja nicht nur Avignon in diesem Festival-verrücktesten Land Europas. Da sind noch abertausende kleinere, oft sehr qualitätsvolle Festspiele aller Art, die sich in Frankreich zwischen Ende Juni und Mitte September zum Teil gegenseitig auf den Füssen herumtreten, so dicht ist der Terminplan in manchen Regionen.
Allein in 30 Kilometern Umkreis des Städtchens Dieulefit dürften es in diesen zehn Sommerwochen mehr als drei Dutzend sein. Man mag sich den derzeitigen Zustand der Verunsicherung, Ungewissheit oder gar Verzweiflung derjenigen gar nicht vorstellen, die sich hier für wenig Geld oder oft sogar freiwillig und mit viel Herzblut zum Teil seit Jahren für das Zustandekommen dieser Sommerevents in ihren Dörfern oder Kleinstädten ins Zeug legen.
Am Abend dieses Mittwochs vor Ostern wurde dann auch noch offiziell bestätigt, was man ohnehin vermuten durfte: Die Ausgangssperren werden in Frankreich über den 15. April hinaus bestehen bleiben, liess der Éliséepalast verkünden, dessen Hausherr sich an diesem Ostermontag erneut und bereits zum 4. Mal seit Beginn der Krise per Fernsehansprache an die Bevölkerung wenden wird.
In Dieulefit
Die Osterglocken läuten an diesem Sonntag über den geschlossenen Türen der zwei Kirchen Punkt 10.15 Uhr einsam vor sich hin. Die Motorsägen, die in den letzten zwei Tagen im Duett oder gar im Trio das Vogelgezwitscher ab 8 Uhr morgens übertönten, schweigen und die frenetischen Gartenarbeiten aller Art, die in den letzten Wochen rundherum zu beobachten waren sind zumindest an diesem Vormittag verstummt. Wohl noch nie waren Rasen und Hecken im Ort so intensiv und millimetergenau geschnitten worden wie in dieser Coronazeit.
Auch die Hunde in Dieulefit haben es gerade gut. Sie kommen so viel aus dem Haus wie niemals in normalen Zeiten. Noch nie hat man hier so viele von ihnen auf der kleinen Strasse vor dem Haus an der Leine gesehen, mit Frauchen oder Herrchen im Schlepptau. Die Vierbeiner sind ein akzeptierter und bequemer Grund, bei diesem sommerlichen Wetter die Quarantäne verlassen zu dürfen – auf der schriftlichen Ausgehgenehmigung, die man sich selbst ausstellt und bei sich haben muss, ist ein anzukreuzendes Kästchen für Gassigehen vorgesehen.
Manchmal fragt man sich, ob einige hier nicht ihre Hunde an andere vermieten, damit diese einen weiteren Grund zum Ausgehen haben. Irgendwo soll einer mit einer Ziege am Strick unterwegs gewesen sein. Die Gendarmen, die ihn kontrollierten, zeigten sich humorlos und kassierten Bussgeld, hiess es.
Bürgermeisterin verstimmt
Die Bürgermeisterin in Dieulefit, die ohne Coronavirus und die unterbrochenen Kommunalwahlen gar nicht mehr im Amt wäre, ist bereits in eine andere Stadt umgezogen. Sie musste jetzt über Wochen hinaus notdürftig bei ihren alten Eltern unterschlüpfen. Sie schreibt Mails, sie ist auf Facebook aktiv und twittert Tag für Tag. Ihr letzter offener Brief an die Bevölkerung trägt bereits die No. 11. Und sie kümmert sich sogar um die kleinen Sorgen, weiss Antworten, wenn etwa jemand keine Wolle mehr hat, um sich mit Stricken die Zeit in der Quarantäne zu vertreiben.
In den letzten Tagen wurde ihr Ton in den unterschiedlichen Botschaften aber etwas ungehaltener. Wenn z. B. einzelne Bürger in den sozialen Medien immer noch fragten, wie sie ihre Ausgehgenehmigung auszufüllen hätten, wenn sie das Haus verlassen und dies oder jenes tun wollten. Frau Bürgermeisterin raunzte zurück, sie sei langsam enttäuscht, ja wütend, dass manche immer noch nicht verstanden hätten, dass die Regel lautet: Man bleibt zu Hause und alles andere ist die Ausnahme! Basta! Sie verstieg sich dabei sogar zu der Bemerkung, zweimal in der Woche einkaufen gehen, das müsse wohl reichen.
Am Karfreitag hat sie dazu nun auch ein Foto veröffentlicht, auf dem tausende rote Coronaviren in Form von stacheligen Kugeln in allen Grössen durch eine Strassenschlucht purzeln und fliegen, dort fast den gesamten Raum einnehmen und von der Frage begleitet werden: «Wenn sie sie sehen würden, würden sie dann rausgehen?»
Der Ausweis
Mit zunehmender Dauer der Ausgangssperre verstärkt sich der Eindruck, dass die ominöse Ausgeherlaubnis, dieses Formular des Innenministeriums mit seinen sieben anzukreuzenden Kästchen und ebenso vielen Gründen, die Quarantäne verlassen zu dürfen, zunehmend Unmut erregt. Diesen Zettel auszudrucken und auszufüllen oder ihn mit der Hand zu schreiben, ihn mit Datum, Uhrzeit und Unterschrift zu versehen, Personalausweis oder Pass nicht zu vergessen, ist nicht wirklich einfach zu einer Gewohnheit geworden, sondern hat für viele, trotz dem Ernst der Lage, mittlerweile etwas Lächerliches. Und die tägliche Veröffentlichung der Zahlen über Kontrollen und Strafen hat etwas Obszönes. Martialisch heisst es da: Neun Millionen Kontrollen haben 600’000 Bussgeldbescheide zur Folge gehabt.
Ein Freund in der tiefen Provinz des Departements Haute-Saône, der auf die 80 zugeht, poltert am Telefon: «In Deutschland, in der Schweiz oder in Österreich werden die Menschen wie mündige Bürger behandelt. Hier behandelt man uns wie Kinder.»
Man hat ihm geantwortet: «Vielleicht haben sich Macron und die Regierung bei ihrer Entscheidung einfach am alten General de Gaulle orientiert, der bekanntlicherweise eines Tages den Spruch getan hatte: ‚Les Français sont des veaux.‘»
Kein Wunder jedenfalls, dass angesichts der Polemik um das Formular mit der Ausgangsgenehmigung ein deutsches Wort im französischen Vokabular, das auf die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung Frankreichs zurückgeht, seit Beginn der Ausgangssperre fröhliche Urständ feiert. Es lautet: «Ausweis». Die Frage «T’as pas oublié ton Ausweis?» hat man im Dorf, trotz aller Ausgangssperren, schon mehrmals vernommen.
Merkwürdig
Schliesslich ist einem noch eine grundsätzliche Merkwürdigkeit bei der Ausbreitung des Coronavirus in Europa oder besser gesagt bei der Anzahl der Todesfälle pro Kopf der Bevölkerung in den einzelnen Ländern aufgestossen.
Europa scheint mehr oder weniger wieder in West und Ost geteilt, auch wenn der nicht wirklich eiserne Vorhang heute etwas weiter westlich verläuft.
Es ist, als gäbe es eine unsichtbare Mauer, die von der Spitze des italienischen Stiefels entlang der Adriaküste und irgendwie durch die Alpen zum Genfer See und dann weiter entlang des Rheins nach Norden bis zur holländisch-deutschen Grenze an der Nordsee und von dort schliesslich übers Meer hinweg im Osten von Grossbritannien verläuft. Links auf der Europakarte sieht es schlimm aus, rechts deutlich weniger schlimm. Eine Erklärung dafür konnte man noch nirgendwo entdecken.