Die Grenzen auszuloten zwischen Fakt und Fiktion oder zwischen Wahrheit und Lüge – das hat Autoren und Autorinnen schon immer interessiert, das ist geradezu ein genuines Thema von Literatur überhaupt. Von Montaigne über Cervantes bis in die Moderne lassen sich die entsprechenden Bemühungen verfolgen. In seinem Tatsachenroman „Kaltblütig“ hat Truman Capote Mitte der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts mit einem wirkungsvollen Donnerschlag das Genre wiederbelebt und den bis heute virulenten „new journalism“ (ein fiktional-narratives Verfahren, auf der Wirklichkeit entnommene Stoffe angewendet) mitbegründet.
Javier Cercas, 1962 geboren, ist ein höchst raffinierter Spezialist dieser Art von Schreiben und Erzählen. Der Roman, mit dem er in Spanien bekannt wurde, heisst „Soldaten von Salamis“ (2001 im Original erschienen) und behandelt in ebenso souveräner wie spielerischer Art ein Motiv aus dem spanischen Bürgerkrieg. Das Buch, in das sich der Erzähler als Figur miteinbringt, wird einmal als eine „Erzählung nach der Wirklichkeit“ bezeichnet, eine Charakterisierung, die offen lässt, welche Passagen der Wirklichkeit und welche der Fantasie geschuldet sind.
Eine Lebenslüge
Im neuen Buch hat sich der Autor radikalisiert. Den Text „Der falsche Überlebende“ nennt er einen „Roman ohne Fiktion“. Allerdings handelt das Buch von einem Lügner gigantischer Statur, was bewirkt, dass ein grosser Teil des Romans, das meiste von dem, was die Hauptfigur dem Autor erzählt, nur als pure Fiktion bezeichnet werden kann.
Cercas unternimmt es auf schon fast obsessive Art, die Lebenslüge eines vermeintlichen Helden des Bürgerkriegs und der Franco-Zeit zu demontieren. Als er sich nach jahrelangem Zögern an die Arbeit macht, ist der Fall eigentlich schon gelöst: Ein Historiker hatte den falschen Überlebenden des deutschen KZ Flossenbürg, als den sich Enric Marco unter anderem jahrzentelang ausgegeben hatte, entlarvt und damit in Spanien einen riesigen Skandal ausgelöst. Der über 80-jährige Katalane Marco, der als Held durchs Land getourt war, Vorträge gehalten und Ehrungen entgegengenommen hatte, wurde mit Hilfe erdrückenden Beweismaterials einer aus vielen kleinen Unwahrheiten zusammengesetzten grossen Lebenslüge überführt. Marco hat die Demontage seiner Person nie akzeptiert, hat sich mit bemerkenswerter Energie, mit neuen Lügen und Schlaumeiereien zur Wehr gesetzt und sich schliesslich auf Cercas Angebot eingelassen, die trübe Story von Grund auf nachzurecherchieren und aufzuschreiben. Wohl in der (falschen) Hoffnung, sich ein Stück weit rehabilitieren zu können
Cercas scheute keine Mühe, die Causa Marco zu durchleuchten. Er führte halbtägige Interviews mit dem Beschuldigten, kämpfte sich durch unendliche Mengen von Dokumenten zum Bürgerkrieg, zu Franco, zum Leben spanischer Arbeiter, die sich, wie Marco, vor und während des Zweiten Weltkriegs freiwillig verpflichtet hatten, in deutschen Fabriken zu arbeiten, befragte alle Zeugen, derer er habhaft werden konnte.
Faszinierendes Geflunker
Der „Roman ohne Fiktion“ macht aus Marco keinen Sympathieträger – aber die Figur des Hauptrollenträgers, eines unglaublichen Schwadroneurs und Narzissten, wird, allein schon wegen der Aufmerksamkeit, die ihr über 500 Seiten zuteil wird, auf die meisten Leserinnen und Leser eine Art von Faszination malgré soi ausüben, etwas, das dem Autor, der darüber öfters reflektiert, sehr bewusst ist. Und natürlich setzt Cercas das Geflunker und die versuchte Legitimierung desselben auch mit der beträchtlichen philosophischen Literatur in Beziehung, die von namhaften Denkern zum Thema Lüge, Notlüge, edle Lüge, moralisch vertretbare Lüge verfasst wurde und wird.
Marcos lebenslange Lüge konnte vom Protagonisten des Romans darum so erfolgreich gelebt werden, weil die Fiktionen im Detail mit wahren und wirklichen Elementen gemischt waren. Fake-News, „alternative Fakten“ und faktische Fakten, real existierende Handlungselemente ergaben im gelebten Leben des Protagonisten zusammen ein undurchdringliches Gemenge, dem es dank der hochstaplerischen Brillanz des Antihelden nicht an Glaubwürdigkeit mangelte.
Einer wie viele andere
Dem spanischen Autor Cercas ist es wichtig, seinen Landsleuten zu vermitteln, dass Marco im Grunde und in der Wirklichkeit einer wie Millionen anderer unter dem Franco-Regime lebender und leidender Spanier gewesen sei, ein ängstlicher Mitmacher, kein Rebell, kein Nein-Sager, aber einer, den ein übersteigerter Narzissmus, ein nicht zu bremsender Geltungsdrang dazu getrieben hatte, sich zu verstellen, zu verkleiden, zu verwandeln, um Aufmerksamkeit zu bekommen. So verwerflich und unmoralisch einem die Reden und Taten des Enric Marco vorkommen mögen, so gerne lässt man sich ein auf seine Fantastereien, auf die Fiktionen und ihre Entlarvungen, in der Art, wie sie Cercas präpariert. Beschämt und auch ein bisschen kokett räumt der Autor ein, dass es der Literatur (und demjenigen, der sie wie Cercas meisterlich zu beherrschen weiss, d. V.) immer wieder gelinge, monströse Figuren, verachtenswerte Betrüger so zu inszenieren, dass man ihnen und ihren Untaten, Fakt hin Fiktion her, bedenkenlos viele Stunden angenehmst verbrachter Lesezeit opfert.
Javier Cercas: Der falsche Überlebende, aus dem Spanischen von Peter Kultze, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017