An einem kühlen Herbstabend war ich auf einer Luftwaffenbasis nordwestlich von London eingetroffen und sass jetzt in einem dieser ebenso eleganten wie unfallberüchtigten Comet-Flugzeugen. Dass man auf den Sitzen nach hinten schaute war zwar gewöhnungsbedürftig, doch bei der Royal Air Force war dies offenbar üblich.
Wenig später hob dann die Maschine ab, um knapp fünf Stunden später in Akrotiri, einer britischen Basis im Süden Zyperns, zu landen. Der Militärflughafen war eingepfercht zwischen dem Mittelmeer und einem halbvertrockneten Salzsee, eine enge Strassenverbindung führte zur nahe gelegenen Stadt Limassol. Es war drei Uhr morgens Lokalzeit, als ich von Bord ging – meine erste IKRK-Mission hatte eben begonnen.
„Le Suisse primitif“
Deutschschweizer seien ganz besonders qualifiziert, sich mit türkischen Militärs herumzuschlagen, war eine der ersten sarkastischen Bemerkungen, die mir von einem meiner neuen, frankophonen Landsleute und Arbeitskollegen zu Ohren kam. Offenbar fühlten sich die vornehmen Genfer wohler in Gesellschaft der bessergestellten und gebildeten griechisch-sprachigen Zyprioten in der Hauptstadt und im südlichen Teil der Insel.
Die oft armen türkisch-zyprischen Bauern oder deren ungehobelte Milizen, geschweige denn die raubeinigen Militärs vom türkischen Festland waren wohl weniger ihr Ding. Dabei ging offenbar völlig vergessen, dass es gerade in dem von den letzteren kontrollierten Inselteil vor allem darum ging, tausende zurückgelassener oder sonstwie gestrandeter griechische Zyprioten zu unterstützen. Wie auch immer, der umgehend als „Le Suisse primitif“ deklarierte Neuankömmling nahm diese Etikettierung gelassen entgegen und geruhte sie eher als Kompliment denn als Provokation zu verstehen.
Flucht in den Norden, Flucht in den Süden
So sollte ich nun möglichst rasch im besetzten Norden Zyperns eingesetzt werden, wo die über 40’000 schwerbewaffneten Invasionstruppen stationiert waren. Für diese Herausforderung war ich denn auch bald bereit, nicht zuletzt dank Yetti, einer besonders sympathischen, zupackenden Mitarbeiterin von ursprünglich holländischer Herkunft. Ich hatte sie während Tagen auf ihren Einsätzen begleitet, und sie hatte mich mit viel Geduld und Sorgfalt mit Umständen und Aufgaben vertraut gemacht, die ich noch nie zuvor gekannt hatte. Ein anderer hilfreicher Kollege war Marc, den ich Jahrzehnte später wieder ganz unvermutet treffen würde, lebte er doch mit seiner Familie im selben kleinen südjurassischen Dorf, in dem ich mich später mit den Meinen niederliess – le monde est petit.
Während die türkischsprachige Minderheit im Süden zunehmend unter massiven Druck kam, ihre Häuser, Dörfer, Weiden und Äcker zu verlassen und sich in den Norden abzusetzen, schrumpfte die Zahl der in der nördlichen Inselhälfte ansässigen, griechischsprachigen Zyprioten ebenfalls dramatisch. Bereits waren über 150’000 in den Süden geflüchtet, und kaum 20’000, vorwiegend betagte Menschen, mit einer kleineren Anzahl Kindern und Enkelkindern, hielten noch aus, in einem verzweifelten Versuch, die Kontrolle über die Anwesen, Ländereien und Plantagen ihrer Familien zu behalten. Genau diese, von allen verlassene Gemeinschaft war es, welche dort dringend unsere Unterstützung und unseren Schutz brauchte.
Nur schöne Worte
Rizokarpaso war die entlegenste grössere Siedlung im sogenannten „Panhandle“ (Pfannenstil), einem schmalen, weit ins Mittelmeer hinausragenden Landstreifen am nordöstlichen Ende der Insel. Es war der 24. April, 1975, und wir waren dort am Verteilen von Hilfsgütern an die darbende Bevölkerung, als die politischen Führer des geteilten Inselstaates in zwei langen, separaten Konvois im Zentrum des Dorfes eintrafen. Tatsächlich waren Glavkos Clerides und Rauf Denktash den ganzen Weg von Nikosia in diese abgelegene Gegend gekommen, um ihre jeweiligen Volksgemeinschaften aufzumuntern.
Doch statt der dringend benötigten Nahrungsmittel, Medikamente und der Lösung zahlreicher anderer Probleme, beschränkte sich ihr Beitrag leider lediglich auf schöne Worte, was vor allem von den griechisch-zypriotischen Einwohnern mit verärgerten Kommentaren quittiert wurde.
Evakuierung der Pflegebedürftigen
Ich beschloss daher die Gelegenheit zu nutzen, um mich spontan für wenigstens eines der dringendsten Anliegen dieser Gemeinschaft einzusetzen, nämlich die Evakuierung von besonders gefährdeten oder pflegebedürftigen Menschen, die ihren bereits in den Süden der Insel geflüchteten Familien nachfolgen wollten. Dazu musste ich allerdings mit beiden Volksgruppenführern separat reden, da sie sich weigerten, sich mit mir zusammen zu treffen.
Umgeben von ihrem Begleittross, sassen sich nämlich die beiden Politiker in zwei Kaffeehäusern auf je einer Seite der staubigen Strasse gegenüber, ohne sich auch nur eines Blickes zu würdigen. Eine ziemlich absurde Szene, welche problemlos in einen Fellini- oder auch Sergio-Leone-Film gepasst hätte.
Gier nach Land, Besitz und Macht
Auch war es ein perfekter Spiegel des ganzen Zypernproblems. Schon kurz nach der Unabhängigkeit der britischen Kronkolonie (16.08.1960) hatte die fehlende Zusammenarbeit zwischen den zwei Volksgruppen plus die Gier nach Land, Besitz und Macht zu schweren Auseinandersetzungen und viel Unrecht geführt. Gemäss dem Abkommen von Zürich waren zwar die griechisch- und türkischsprachigen Volksgruppen gleichberechtigt, doch wurde, vor allem von der griechischsprachigen Mehrheit, schon sehr bald heftig an diesem Prinzip gerüttelt.
Der griechisch-zypriotische Kirchen- und Staatsführer Erzbischof Makarios wollte ein unabhängiges Land unter seiner Führung; Teile der Armee bevorzugten einen Anschluss an Griechenland (Enosis), worauf die türkische Seite anfing, mit einer Teilung der Insel (Taksim) zu liebäugeln.
Uralter Konflikt
Im Jahre 1963 kam es schliesslich zu monatelangen, bürgerkriegsähnlichen Unruhen, welche 1964 durch die Ankunft von Uno-Truppen beendet wurden. Nur zehn Jahre später, am 15. Juli 1974, unterstützte die Militärjunta in Athen einen erneuten Anschlussversuch Zyperns an Griechenland.
Dieser Putsch der zypriotischen Nationalgarde und ihrer Hintermänner lieferte der Türkei den Vorwand zur nur Tage später stattfindenden Invasion des nördlichen Teils der Insel, welche wiederum den separatistischen Ambitionen extremistischer Kreise beiderseits der jetzigen Trennungslinie der Insel in die Hände spielte. Es waren also die beidseitige Machtbesessenheit zusammen mit einem offensichtlichen Mangel an gegenseitigem Interesse und Respekt, die diesen uralten Konflikt wieder aufleben liessen. Zu einer einvernehmlichen Lösung ist es bis heute nicht gekommen.
Die Heimat für immer verlassen
Zurück in Rizokarpaso wurden schliesslich die beiden kaffeetrinkenden Politführer derart von der Menge beschimpft und bedrängt, dass ihnen nichts mehr anderes übrigblieb, als zumindest eine Geste gegenüber den auch vom IKRK unterstützten Forderungen anzubieten. Eine Anzahl griechisch-zypriotischer Ausreisewilliger hatte nämlich bereits ihre mit Habseligkeiten überladenen Fahrzeuge an der Ausfallstrasse aufgereiht und waren fest entschlossen, ihren Heimatort sofort und für immer zu verlassen.
Clerides wollte zwar keineswegs, dass seine Landsleute ihre Besitztümer und Ländereien aufgaben, konnte sich aber unter diesen Umständen dem von Angst und Wut genährten Drängen nicht widersetzen. Denktash hatte damit sowieso kein Problem, da es ja das Ziel seiner Politik war, den Norden der Insel ausschliesslich von der eigenen, türkischsprachigen Volksgruppe besiedelt zu haben.
Und so konnte letztlich eine Wagenkolonne mit Dutzenden Flüchtlingen dem Konvoi der beiden Politiker Richtung der geteilten Hauptstadt Nikosia hinterherfahren, während unsere beiden IKRK-Autos ganz am Schluss folgten und aufpassten, dass auch alles mit rechten Dingen zuging.
Eine zerbrechliche Ladung
Das Fest der Auferstehung stand vor der Tür, und die enthusiastischen und unermüdlichen Damen vom Zypriotischen Roten Kreuz wollten ihren im Norden darbenden Landsleuten unbedingt eine österliche Freude bereiten. Dafür hatten sie eine Sammlung von sage und schreibe vierzigtausend (!) hartgesottenen, fantasievoll bemalten Ostereiern organisiert. Viele davon waren mit religiösen Slogans und politischen Parolen beschriftet, welche, wie man sich leicht vorstellen kann, nicht gerade das Lob der muslimischen Besatzungstruppen sangen.
Ein IKRK-Lastwagen war inzwischen sorgfältig mit dieser zerbrechlichen Fracht beladen worden. Dazu gesellten sich noch gut einhundert Flaschen „Commandaria“, ein etwas süsslicher aber potenter lokaler Traubenlikör, der zweifellos einer guten Anzahl von im Norden zurückgebliebenen Grossvätern, und wohl auch Grossmüttern, helfen würde, ihr Unglück über die Festtage etwas zu vergessen. Von all den IKRK-Delegierten im Dienst war ich schliesslich der einzige Freiwillige, der bereit war, mit den türkischen Militärs über die Zustellung und Verteilung dieser nicht gerade alltäglichen Hilfssendung zu verhandeln. Es sollte ein langer Tag und eine in mehrfacher Hinsicht heikle Operation werden.
„ελευθερία“
Am nächsten Morgen parkten wir den vollbepackten Lastwagen vor dem Hauptquartier der türkischen Armee im Norden von Nikosia, wo mich der zuständige Kommandant bereits erwartete. Wir hatten uns schon mehrmals zuvor getroffen und machten uns beide über die Schwierigkeiten des geplanten Unternehmens wenig Illusionen.
Ohne weiteren Kommentar zeigte ich dem Offizier spontan ein typisches Muster der vierzigtausend Ostereier: es war mit einer heiligen Maria bemalt, die ihre schützende Arme über das besetzte nördliche Zypern ausbreitete, und auf der anderen Seite las man, in Blau auf Weiss, den griechischen Farben, das verbotene Wort „ελευθερία“, Freiheit.
„Teschekür ederim, Colonel“
Während er seinen starken Kaffee schlürfte, betrachtete mich der türkische Oberst mit einer seltsamen Mischung von Sympathie und Desillusion, und ich war mir nicht so sicher, ob dies nun ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Nach einigen Minuten schweigendem Kaffeetrinkens bat ich ihn, doch für einmal auf eine detaillierte Inspektion der Fracht zu verzichten, welche Stunden, wenn nicht Tage gedauert hätte, mit unvorhersehbaren Risiken für die ebenso zerbrechlichen wie verderblichen Objekte. Und da der Weg zum Zielort Karpasien weit und die Strasse vom Einschlag unzähliger Granaten voller Schlaglöcher war, bat ich ihn, dem Ostertransport des Roten Kreuzes baldmöglichst grünes Licht zu geben.
Anstatt irgendeines Kommentars zur Ladung oder Destination des Lastwagens bot er mir zunächst schweigend mehr Kaffee an, zusammen mit türkischen Süssigkeiten. Doch stand er dann plötzlich auf und meinte: „Ihr könnt jetzt aufbrechen mit Eurer seltsamen Fracht, und einer meiner Offiziere wird Euch diskret vorherfahren und dafür sorgen, dass ihr an den Strassensperren der türkisch-zyprischen Kommandoposten nicht aufgehalten werdet. Ich wünsche Euch all das Glück, welches Ihr auf der holprigen Strasse brauchen werdet.“ „Teschekür ederim, Colonel“, antwortete ich hocherfreut und fügte dankbar hinzu: „Chok merci!“
Frohe Ostern
Tatsächlich war die Strasse in einem desolaten Zustand, doch glücklicherweise fuhr unser Chauffeur aus der Innerschweiz den Laster wie ein wahrer Künstler über und um die unzähligen Erhebungen und Vertiefungen. Abgesehen von ein-, vielleicht zweihundert beschädigten Eiern und ein paar wenigen zerbrochenen Flaschen erreichten wir die verschiedenen Zielorte sicher und heil. Dort wurden wir von den wenigen jungen und zahlreichen älteren Damen und Herren begeistert willkommen geheissen, und immer wieder flossen Freudentränen.
Müde aber glücklich waren wir um Mitternacht zurück in Nikosia, wo wir das erfolgreiche österliche Unternehmen in unserem bevorzugten Lokal, der Cleopatra-Bar, mit ein paar wohlverdienten Drinks auch gebührend feierten. Καλό Πάσχα! – Frohe Ostern!
Frustrierende Aufgabe
Die militärischen Auseinandersetzungen hatten bisher zahlreiche Opfer gefordert und das Schicksal von gegen zweitausend Kämpfern und Zivilisten war noch völlig ungewiss. Das IKRK war seit Monaten an der Suche nach diesen Vermissten beteiligt, leider ohne nennenswerte Resultate. Etwas erfolgreicher waren unsere Bemühungen, den wenigen, im Süden verbliebenen türkisch-zyprischen Gemeinschaften mit Rat und Tat beizustehen und wenigstens die elementarsten Bedürfnisse der im Norden quasi sitzengelassenen Griechisch-Zyprioten zu decken.
Mit viel Mühe und nach langer Suche nach einer freiwilligen Lehrerin gelang es mir zum Beispiel für dutzende, in den Dörfern Karpasias zurückgelassener Kinder wieder eine Schule eröffnen zu lassen. Doch alles in allem war es eine recht frustrierende Aufgabe, da auf politischer Ebene das traurige Schicksal dieser Menschen schon längst beschlossene Sache war: Die noch im Süden verbleibenden Türkisch-Zyprer würden letztlich alle ihre Heime verlassen und sich im Norden niederlassen müssen, während auch für die Griechisch-Zyprioten die endgültige Aufgabe ihrer Häuser und Ländereien im Norden lediglich eine Frage der Zeit war.
Vom Berg des Olympus ...
Humanitäre Einsätze konnten also auf die Dauer eine recht anstrengende Sache sein, und an einem schönen Sonntag, anfangs 1975, beschloss ich, mir eine kleine Auszeit zu gönnen. Kaum fünfzehn Kilometer südlich der die Insel zweiteilenden „Grünen Waffenstillstandslinie“ gelegen, befand sich der Göttersitz Mt. Olympus in den Troodos Bergen, mit fast 2’000 m Höhe Zyperns höchster Gipfel. Und da er an jenem Februartag schneebedeckt war, packte ich die Gelegenheit, zusammen mit ein paar heimwehkranken Kolleginnen und Kollegen das freie Wochenende auf Schweizerart zu verbringen.
Tatsächlich konnte man dort oben für wenig Geld ein Paar ziemlich ausgedienter Skier mieten, und dann gings fröhlich rauf und runter, bis uns der Schnee um Mittag unter den Füssen wegschmolz – nicht gerade alpine Verhältnisse, doch trotzdem viel Spass.
... zum Strand der Aphrodite
Wir gaben die alten Holzlatten zurück, fuhren den Berg hinunter Richtung Mittelmeer und sprangen schliesslich nach einer guten Stunde, irgendwo zwischen Limassol und Paphos, ins noch empfindlich kühle Wasser. Doch halt, nicht einfach irgendwo, sondern an einem wunderschönen, von Felsen umrahmten Sandstrand in Πέτρα του Ρωμιού, genau dort, wo einst meine bevorzugte Göttin Aphrodite frischgeboren der perlmuttglänzenden Muschel und dem Meereswasser entstieg – ein ganz besonderer Genuss! Immerhin, die Kombination zweier meiner bevorzugten Freizeitvergnügen am selben Tag war ein für mich erstmaliges Erlebnis, und all dies auf einer Insel im Kriegszustand ...
Als ich nach sechs Monaten nach Genf zurückkehrte, wurde mir erst klar, wie sehr mir die Götterinsel und zahlreiche ihrer Bewohner ans Herz gewachsen waren. Doch ausgenommen von einem leidlich funktionierenden Waffenstillstand waren weder auf der humanitären noch politischen Ebene nennenswerte Fortschritte zu verzeichnen.
1’500 Menschen sind vermisst
Praktisch alle türkischsprechenden Bewohner hatten inzwischen den Süden verlassen, und nur noch ein paar tausend Zyprioten griechischer Zunge harrten noch im isolierten nordöstlichen Karpasien aus. Zudem wurden auch damals noch immer etwa 1’500 Menschen vermisst und bleiben es bis heute, bald fünfzig Jahre später.
Auch an der politischen Sackgasse hat sich seither wenig geändert, im Gegenteil. Indem die EU zwar den südlichen Teil, doch nicht die gesamte Insel als Mitglied anerkannte, hatte sie sich damit praktisch zur Unterstützerin der Separatisten gemacht. Die Massnahme erlaubte zwar eine gewisse Normalisierung des Lebens beiderseits der Grünen Linie und liess vor allem auch den Tourismus wiederaufleben, doch all dies mit durchaus fragwürdigen Folgen für die längerfristige Identität des Inselstaates.