Der grösste politische Fehler der EU war mangelnde Voraussicht, mehr oder weniger vorgespielte Blindheit und damit verbunden falsche Reaktionen, insbesondere das Abwälzen der Lasten auf schwächere mediterrane Länder. So hat die „grösste humanitäre Krise der Gegenwart“ entstehen können. Der Hauptschönredner dieser europäischen Scheinheiligkeit ist der französische Präsident Macron. Derweil vergisst der ungarische Ministerpräsident Orbán die westeuropäische Solidarität mit den Ungarnflüchtlingen von 1956.
Niemand wird freiwillig Flüchtling. Man hat in der Regel nur noch sein nacktes Leben und ein Bündel Banknoten. Vielleicht zahlt man für kriminelle Helfer, denen niemand das Handwerk legt. Reiner Idealismus ist ein zu schwaches Gegenmittel, leider auch nicht humanitäre Rettungsschiffe, deren Betreibern man vorwirft, den Schleusern in die Hand zu spielen. So ertrinken die Flüchtlinge weiter oder landen wieder in libyschen Verliessen.
Es fehlt nicht an Analysen, aber an Referenzen. Man mag schon nicht mehr „Exodus“ lesen oder ansehen, die nicht vergleichbare historische Völkerwanderung studieren. Man vergisst den Selbstmord von Walter Benjamin an der französisch-spanischen Grenze. „Das Boot ist voll“, um in der Schweiz zu bleiben. Der Asyldrang hat sich globalisiert wie alles. Früher behielt man afrikanische Flüchtlinge jahrzehntelang „zuhause“ in Wüstenlagern – dank der UNHCR.
Man muss sich fragen, was Europa auf Dauer mehr schadet: eine alles in allem begrenzte Zahl von Flüchtlingen oder der aufkeimende Rechtspopulismus, der das Rad der Geschichte zurückdreht. Dem jungen österreichischen Kanzler Kurz, der ab Juli in dem von ihm geschätzten Rückwärtstrend die EU präsidiert, sollte man – wie auch sich selbst – vorschlagen, sich vorzustellen, man sei ein Flüchtling.