Sie werden beschuldigt, Pläne geschmiedet und Verschwörungen durchgeführt zu haben, um die gewählte Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayep Erdogan zu stürzen.
In den ersten Stunden des vergangenen Samstags wurde General Bashbug eingekerkert. Zuvor war er sieben Stunden lang vom Untersuchungsrichter verhört worden. Er steht unter Verdacht, an einem angeblichen Komplott beteiligt gewesen zu sein, das versuchte, die türkische Regierung zu stürzen.
Mehrere Prozesse, die sich um Teilaspekte derartiger Militärkomplotts drehen, befinden sich im Stadium der Untersuchung. Der erste von ihnen begann 2007. Keiner dieser Prozesse ist beendet, überall steht das Urteil noch aus. Angeklagt und in Untersuchungshaft gehalten wegen mutmasslicher Beteiligung an den Umsturzplänen sind 273 Offiziere und einige Zivilisten, unter ihnen Advokaten und auch 37 Journalisten.
Armeeverschwörungen?
Der ganze mutmassliche Verschwörungskomplex steht in der Türkei unter dem Namen Ergenekon. Dies soll der Deckname der wichtigsten dieser Verschwörungen gewesen sein. Ergenekon ist der Name eines paradiesischen Landes, aus dem nach der alt-türkischen Mythologie die türkischen Wandervölker in Zentralasien ihren Ursprung genommen hätten.
General Bashbug war bis 2010 Generalstabschef der türkischen Amree und damit der mächtigste oder der zweitmächtigste Mann in der Türkei, je nachdem, ob man ihm oder dem Ministerpräsidenten die grösste Machtfülle zuschreiben wollte.
Um diese Machtfülle hatte in den Jahren zuvor ein bitterer Streit bestanden. Die Armee hatte versucht, den gewählten Staatschef, Erdogan, abzusetzen, indem sie ihm vorwarf, er und seine Partei verstiesssen gegen die verfassungsmässig gebotene Laizität des türkischen Staates. Der Versuch der Armee, dies über die Gerichte durchzusetzen, war 2008 ganz knapp fehlgeschlagen. Später hatte Erdogan seine Position schrittweise gefestigt. Im August 2011 war er soweit, dass er sich gegen die Armee durchsetzen konnte. Bashbug selbst war bis 2010, als er in die Pension ging, einer der Gegenspieler Erdogans.
Die Staatsmacht gegen Atatürks Erben
Die Türkei war damals - und ist es noch heute - zutiefst gespalten in eine zahlenmässige Minderheit von bisherigen Machthabern, Politikern und ihren Anhängern, die zur Armee halten und den Islam als eine Gefahr für den türkischen Staat ansehen und anderseits in eine zahlenmässige Mehrheit von Türken in weniger elitären Positionen, die mehr Islam in der Türkei anstreben, ohne das demokratische System des Landes in Frage stellen zu wollen.
Intrigen der Generäle?
Die Anklagen, nach denen türkische Offiziere in den kritischen Jahren des Machtkampfes zwischen der Armee und dem Ministerpräsidenten Umsturzpläne geschmiedet haben sollen, beruhen auf Dokumenten, die teilweise den Zeitungen zugespielt wurden, teilweise auf konfiszierten PCs zu Tage getreten sein sollen und auf Funden von versteckten Waffen.
Die Pläne - falls ihre Echtheit erwiesen würde - gingen stets darauf aus, Unruhe im Lande zu stiften, die den Offizieren als Vorwand gedient hätten, um durch Gewaltakte in der Art von Staatsstreichen in das politische Leben des Landes einzugreifen und seine gewählte Regierung zu Fall zu bringen.
Die Untersuchungen, die immer noch andauern, haben über die Jahre dazu geführt, dass immer mehr Offiziere und solche immer höheren Ranges als mitbeteiligt und daher mit verantwortlich angesehen wurden, was sehr wahrscheinlich auf die Aussagen der Untersuchungsgefangenen selbst zurückgeht, weil diese oft erklären, sie hätten auf Befehl von oben gehandelt.
Bisher ein Staat der Soldaten
Mit den Anklagen, die der türkische Staat nun gegen den früheren Generalstabschef erhebt, hat dieser Vorgang seinen Höhepunkt erreicht. Entwicklungen dieser Art wären in jedem Land aufregend. Doch in der Türkei, seit Jahrhunderten ein Soldatenstaat, in dem die Armee stets die erste Rolle im Staat innehatte, sind sie besonders erregend.
Schon im Osmanischen Reich pflegte die Elite-Truppe der Janissaren, wenn sie mit dem Sultan nicht zufrieden waren, sich gegen ihn zu erheben und ihn auch gelegentlich köpfen zu lassen. In der modernen Türkei war General Mustafa Kemal, später Atatürk, der Befreiungsheld und Staatsgründer. Er hatte der Armee ausdrücklich den Auftrag erteilt, nach ihm das von ihm eingeführte politische System zu erhalten.
Die Soldaten und ihre Generäle haben dies auch getan, indem sie drei grosse Staatsstreiche durchführten, 1960, 1971 und 1980, die nach ihrem Selbstverständnis dieser Verpflichtung nachkommen sollten. Die Generäle haben auch vor der Wahl Erdogans im Jahre 2002 in kleineren Eingriffen viele weitere Male ihre Macht gegen die jeweiligen Regierungschefs durchgesetzt. Im Rahmen eines Sicherheitsrates pflegten sie in den 80er- und 90er-Jahren die Regierungen permanent zu überwachen und fernzusteuern.
Geheimdienste am Rande der Legalität
Diese politische Rolle, die der Armee zukam und die ihre hohen Offiziere freudig wahrnahmen, hat dazu geführt, dass die türkische Armee auch politische Instrumente entwickelte, die in der Art von Geheimdiensten das Land und seine Machthaber überwachten und gegen angebliche Gefahren und vermutete Landesgegner mit Mitteln einschritten, die den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprachen.
Die angebliche Notwendigkeit von Geheimhaltung pflegte dazu zu dienen, Verbrechen wie politische Morde, die unter der Leitung oder auf Anstiftung der politischen Dienste hin durchgeführt wurden, dem Zugriff der Gerichte zu entziehen. Im Notfall verweigerten die Geheimdienstleute schlicht, vor den Gerichten auszusagen. Die Kurden, die stets verdächtigt wurden, die Türkei "spalten zu wollen", waren die wichtigsten Opfer der illegalen Eingriffe, bei denen die Geheimdienste sich gelegentlich durch Verbrecher aus der türkischen Unterwelt unterstützen liessen
Es gab einen "tiefen Staat"
Es gab Zeiten, in denen die Geheimdienste in der Lage waren, den Gerichten alle Aufklärung zu verweigern, falls diese indiskret genug waren, sich in ihre Anliegen einmischen zu wollen. Ein Grossteil der Richter, die damals ebenfalls weit überwiegend zur Atatürk-Elite des Staates gehörten, stimmte den Aktivitäten der Geheimdienste zu und liess sie unbesehen geschehen. Die Türken sprachen vom "tiefen Staat" und meinten damit jene Teile des Staates die unter dem Schutz der Armee handeln konnten und handelten, ohne sich an die Gesetze zu halten.
Gibt es Beweise?
Weil es solche Aktivitäten gab und weil einige davon im Laufe der Jahre bekannt wurden, sind die Vorwürfe, die nun gegen Armeeoffiziere erhoben werden, nicht unglaubhaft. Doch sie sind, insofern es sich dabei um vermutete Pläne handelt, die geschmiedet worden seien, aber nie zur Ausführung gelangten, auch nicht leicht zu beweisen.
Inwieweit bestanden sie wirklich? Inwieweit sind die aufgetauchten Dokumente echt? Falls sie echt sein sollten, inwieweit waren sie blosse "Übungen", wie manche der Angeklagten erklären? Eventualplanungen wie sie jede Armee entwickelt? Inwieweit blosse Versuche, jene Teile des türkischen Volkes zu unterstützen, die für die Streitkräfte und ihre Politik Partei nahmen?
Eine politische Abrechnung?
Die Kritiker Erdogans und Freunde der Armee glauben, dass es sich bei den Anklagen und Festnahmen um einen Racheakt der Regierung handle, die nun darauf ausgehe, der Armee endgültig den Meister zu zeigen. Die Regierungssprecher betonen regelmässig, sie hätten mit der ganzen Sache gar nichts zu tun, es handle sich um eine Angelegenheit der Gerichte, und diese müssten ihre Aufgabe ungestört erfüllen. Doch die Regierungskritiker glauben das nicht. Für sie ist klar, dass es darum gehe, das Prestige der Streitkräfte zu schädigen, und sie beginnen bereits zu fragen: "Wer soll die Türkei verteidigen, wenn unsere Streitkräfte von ihrer eigenen Regierung zerschlagen werden?"
Der Umstand, dass es nicht zu Verurteilungen oder Freisprüchen kommt, jedoch nun schon seit Jahren zu immer neuen Festnahmen, während die Aktenberge sich ins Unübersehbare türmen, stützt die Ansicht der Kritiker. Jedoch die unbestreitbare Tatsache, dass in der Vergangenheit ein "tiefer Staat" bestand und wirkte, der stets von den Geheimdiensten und deren leitenden Offizieren gesteuert und eingesetzt wurde, stützt die Annahmen der Anklage.
Altlasten im Rechtswesen
Einsichtige Kommentatoren weisen darauf hin, dass das türkische Rechtssystem mit dafür verantwortlich sei, dass die Prozesse sich ins Unendliche ausdehnen. Viele Richter, so schreibt der Kommentator Mustafa Akoyl, hielten die Angeschuldigten gefangen, weil die Türkei keine provisorische Freisetzung gegen Kaution kenne, und weil die Wahrnehmung vorherrsche, nur Prozesse, in denen der Angeklagte gefangen sässe, seien "ernsthafte Prozesse".
Es gehöre auch, sagt er, zu den Altlasten der Vergangenheit, dass die Gerichte geneigt seien, ideologische Stellungnahmen zu kriminalisieren. Die türkische Menschenrechtsorganisation meldet, 42 % der 128'000 Gefängnisinsassen der Türkei seien Angeklagte ohne Verurteilung!
Wenn dann ein Richter Angeklagte über Monate oder Jahre hinweg gefangen gehalten habe, so Akyol unter Berufung auf einen befreundeten Rechtsanwalt, zögere er, sie schliesslich frei zu sprechen und ziehe es vor, sie zu verurteilen, schon um nicht einräumen zu müssen, sie seien vergeblich und missbräuchlich gefangen gehalten worden.
Neue Staatsmacht, alte Rechtsverhältnisse
Man kann dazu anmerken: In der Vergangenheit waren es vor allem die vermuteten Feinde des Staates und seiner Armee, in erster Linie immer wieder die Kurden, die eine solche Behandlung erdulden mussten. Nun hat sich das Blatt gewendet, und es sind - noch immer die Kurden, aber auch die gegen die Regierung kritisch auftretende Offiziere und ihnen nahestehende Intellektuelle, die in die langsam und nicht immer vorurteilsfrei mahlenden Mühlen der türkischen Gerichte geraten.
Pläne zur Reform der türkischen Gerichte werden zur Zeit vom Justizministerium geschmiedet. Doch sie dürften nicht zur Anwendung kommen, bevor die Fehde zwischen der Partei des Ministerpräsidenten und den Freunden der Militärs nicht bloss wie jetzt machtmässig, sondern auch gerichtlich, wie noch ausstehend, entschieden sein wird.